Nitoman ein verwaistes Medikament in Deutschland

Zu orphan-drugs nach dem BSG-Urteil vom 18.5.2004, Az B 1 KR 21/02 R

Vorgeschichte

Zur symptomatischen Behandlung der Huntington-Krankheit werden vornehmlich verschiedene in Deutschland zugelassene Medikamente eingesetzt. In den meisten Fällen gibt es, wenn ein Patient eines dieser Medikamente aufgrund von individuell ausgeprägten Nebenwirkungen nicht verträgt, andere Wirkstoffe, die stattdessen verabreicht werden können.

Gegen die motorischen Überbewegungen (Chorea, Hyperkinesien) bei der Huntington-Krankheit ist Tiapridex® als zugelassenes Medikament das Mittel der ersten Wahl. Leider gibt es bei den wenigen Patienten, die Tiaprid nicht vertragen oder bei denen die Wirkung von Tiaprid alleine nicht ausreicht, meist keine Ausweichmöglichkeit auf ein anderes zugelassenes Medikament. So wurden in der Vergangenheit viele dieser Menschen auf Nitoman® (Tetrabenazin) eingestellt1. In der Regel war dies auch problemlos möglich, denn die Apotheken konnten die Substanz bei der internationalen Apotheke aus dem Ausland beziehen. Fast immer haben auch bisher die gesetzlichen Krankenkassen die Verordnungen der niedergelassenen Ärzte akzeptiert. Nur in einer handvoll Fällen war bislang eine Einzelfallprüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) erforderlich. Eine Zulassung des seit Jahrzehnten bekannten und eingesetzten Wirkstoffs in Deutschland bzw. der Europäischen Union ist unseres Wissens – offensichtlich aus wirtschaftlichen Gründen2 – nie betrieben worden und somit auch nie abgelehnt worden.

BSG-Urteil vom 18.5.2004

Im Mai entschied der Bundesgerichtshof im Falle eines Patienten, der die Übernahme der Kosten für ein Prophylaxe-Medikament (Immucothel) nach einem Blasenkarzinom bei der Krankenkasse einklagte3. Bei Immucothel war ein laufendes deutsches Zulassungsverfahren 1997 „mangels ausreichender Arzneimittelprüfung und belegter therapeutischer Wirksamkeit“ abgelehnt worden. In Österreich wurde es 2002 zugelassen. Leider hat das BSG die Klage formal abgelehnt. Sinngemäß argumentierte das BSG es könne nicht sein, dass eine Entscheidung zur Zulassung, die in Deutschland beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu erfolgen habe durch Zulassungsverfahren im europäischen Ausland umgangen werde. Gemäß des Entscheidungstextes des BSG4 ist eine regelrechte Zulassung von Medikamenten zwingend erforderlich, damit ein Wirkstoff allgemein als zweckmäßig und wirtschaftlich anerkannt werden kann (§ 12 SGB V5) und so zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähig wird.

Bedeutung für den Einsatz von Tetrabenazin

Leider hat diese strenge Regelung Auswirkung auf andere Medikamente – u.a. auf Tetrabenazin – gehabt. Nach Auslaufen einer Übergangsregelung Anfang November 2004 muss jetzt jeweils im Einzelfall geprüft werden, ob nicht aufgrund der individuellen Besonderheiten bei einem bestimmten Patienten dennoch die Voraussetzung der „Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit“ vorliegt.

In Verhandlungen des Bochumer Oberarztes Peter Kraus mit den Krankenkassen, vornehmlich der AOK Westfalen-Lippe, konnte zunächst geklärt werden, dass bei medizinischer Notwendigkeit in begründeten, MDK-begutachteten Einzelfällen nach wie vor die Kostenübernahme durch die Krankenkassen möglich bleibt.

Leider wollen einige Gutachter des MDK nicht begreifen, dass sie bei diesen Anträgen mit ihrem medizinischen Sachverstand gefragt sind und entledigen sich des Problems mit dem Hinweis auf die fehlende Zulassung. Die verwaltungsrechtliche Würdigung der Anträge sollte jedoch bei den Sozialversicherungsfachangestellten der Krankenkassen bleiben, die letztlich ja dafür ausgebildet worden sind und dafür von den Versicherten bezahlt werden.

Was kann getan werden?

Im klinischen Bereich – die Versorgung mit Tetrabenazin ist bei den stationären Patienten im Huntington-Zentrum NRW (noch?) unproblematisch – wurde das Problem erst Anfang letzten Novembers sichtbar, als viele der Patienten, die wir auf Nitoman eingestellt hatten, von ihren niedergelassenen Ärzten, den Apothekern oder den Krankenkassen darüber informiert wurden, dass ab sofort das Medikament nicht mehr von den Krankenkassen übernommen werden könne. Bei denjenigen, die schon im Vorfeld eine Einzelfallentscheidung hatten durchfechten müssen, gab es u.W. jedoch keine Probleme bei der weiteren Kostenübernahme.

Je nachdem wie lange die letzte Behandlung bei uns zurücklag, konnten wir mit einer ärztlichen Bescheinigung für die Einzelfallbegründung helfen oder die verordnenden niedergelassenen Ärzte bei der Begründung (Musterbrief im PDF-Format) unterstützen6. Daraufhin sind bereits einige Einzelfälle anerkannt worden, andere befinden sich noch in der Schwebe. In einem Fall zeichnet es sich ab, dass es zu einer Klage kommen wird.

Mehrfach wurden jedoch ansonsten vermeidbare stationäre Behandlungen erforderlich, weil der Versuch unternommen wurde (bzw. werden musste), Nitoman abzusetzen. Uns ist von einem Fall aus dem Pflegebereich bekannt, bei dem es unter der Umstellung der Medikation zu einem Sturz gekommen ist. Der Beweis, dass dies eine Folge der Umstellung war, lässt sich vermutlich nicht führen, aber die Vermutung liegt nahe, da uns von einer deutlichen Verschlechterung der Bewegungsstörung berichtet wurde.

In einem weiteren Fall wird das Absetzen von Tetrabenazin vermutlich nur unter Inkaufnahme einer deutlichen Sedierung möglich sein. (wir bemühen uns noch diesen Fall nicht eintreten zu lassen.) Neben dem erheblichen Verlust von Lebensqualität ist zu befürchten, dass in der Folge auch zusätzlich erheblicher Aufwand bei der Hilfsmittelversorgung betrieben werden muss, um Komplikationen der Sedierung zu kompensieren (z.B. Dekubitusprophylaxe).

Ein weiteres BSG-Urteil

Kurz vor dem Auslaufen der Übergangsregelung für Auslandsmedikamente hat der selbe Senat des BSG am 27.10.20047 entschieden, dass es im Einzelfall dennoch möglich ist, diese weiter zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu verordnen. Dies sei laut Pressemitteilung möglich, wenn „wegen der Seltenheit der Erkrankung eine systematische Erforschung ausscheidet, … die Arzneimittelqualität im Hinblick auf die Indikation im Einzelfall zu prüfen“ ist und „ausländische Zulassungen den Schluß erlauben, dass diese Arzneimittelqualität im Behandlungszeitpunkt ausreichend ist“.

Die Arzneimittelqualität ergibt sich aus der umfangreichen wissenschaftlichen Literatur und der Verordnungspraxis im (europäischen) Ausland. Der Sachverhalt der Seltenheit trifft zu, da bei der ohnehin schon seltenen Grunderkrankung nur eine kleine Untergruppe auf Tetrabenazin angewiesen ist. Sollte die Bedingung der Seltenheit angezweifelt werden, so wäre zumindest aus marktwirtschaftlichen Gründen eine systematische Erforschung nicht möglich, die in ihrer praktischen Auswirkung der Seltenheit gleichrangig ist.

Auch käme m.E. noch im Betracht, ein Systemversagen anzuführen. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen8 hat die Aufgabe, neue Behandlungsmethoden hinsichtlich der Leistungserbringung durch die gesetzliche Krankenversicherung zu beurteilen. Dies soll gerade sicherstellen, dass auch Medikamente, bei denen das Zulassungsverfahren durch das BfArM noch nicht erfolgte, eingesetzt werden können. Da Tetrabenazin jedoch schon so lange eingesetzt wird, kann von einem neuen Verfahren nicht wirklich gesprochen werden bzw. bestand zu dem Zeitpunkt, als Tetrabenazin noch neu war, die jetzige Regelung mit dem Bewertungsverfahren des § 135 SGB V noch nicht.

Was muss geändert werden?

Das augenblickliche Verfahren mit aufwändigen Einzelfallprüfungen ist für alle Seiten (Patienten, Ärzte, Sozialdienste, Krankenkassen und Medizinische Dienste) unbefriedigend, da es für die Patienten und deren Familien eine große Verunsicherung und möglicherweise Gefahren und Belastungen bei überflüssigen Versuchen die Medikation umzustellen bedeutet und für die Professionellen erheblichen, vermeidbaren Verwaltungsaufwand. Es wäre zu wünschen, wenn

Fragen Sie doch einmal ihren Bundestagsabgeordneten, was er zur Lösung dieses Problems vorschlägt, oder schreiben sie ans Bundesgesundheitsministerium oder im konkreten Einzelfall an den Petitionsausschuss des Bundestages. Die Qualität einer Demokratie hängt immer auch von der Bereitschaft seiner Bürger ab, sich um die (gesetzlichen) Regelungen zu kümmern und an deren Gestaltung mitzuwirken.


Kontakt:

Jürgen Blumenschein, eMail: huntington@dokom.net
Homepage: http://members.dokom.net/blumenschein
c/o Huntington-Zentrum NRW
Neurologische Uniklinik im St. Josef Hospital
Alexandrinenstraße 5, 44791 Bochum
Tel.: +49 234 509-2428, Fax: +49 234 509-2427

1Symptomatische Therapie (AWMF zu Chorea)
Insgesamt sind zu keiner Fragestellung der symptomatischen Therapie aussagekräftige kontrollierte Studien verfügbar. Die folgende Aufstellung enthält daher lediglich Empfehlungen, die auf Kasuistiken und Expertenwissen beruhen. Eine evidenzbasierte Therapie gibt es bislang nicht:

  1. Hyperkinesen: Einsatz von Neuroleptika mit bevorzugtem Antagonismus an D2-Rezeptoren, v. a. Tiaprid (Tiapridex® 3 x 100 mg bis 4 x 300 mg pro Tag). Wegen des negativen Effektes auf parallel häufig bestehende Hypokinese und Bradykinese und der Verstärkung von Depressionen sollten Neuroleptika jedoch nur sparsam bei behindernden Hyperkinesen eingesetzt werden. Bei unzureichender Wirkung oder in Ergänzung zu Tiaprid können alternativ monoamindepletierende Substanzen wie Tetrabenazin (3 x 25 mg bis 3 x 75 mg pro Tag) oder das atypische Neuroleptikum Sulpirid (s.u.) Anwendung finden. Clozapin in hoher Dosierung (150 mg pro Tag) erscheint zur Behandlung von Hyperkinesen bei Chorea Huntington nur bei wenigen Patienten wirkungsvoll zu sein.

2Die im angloamerikanischen Sprachraum orphan-drugs genannten Medikamente sind Arzneien, die nur bei einem sehr kleinen Patientenkreis eingesetzt werden können. Bei diesen lohnt es sich für die pharmazeutische Industrie nicht ein teures Zulassungsverfahren zu betreiben, da diese Kosten nicht wieder zurück erwirtschaftet werden könnten. Seit 1983 wird die Zulassung und Entwicklung solcher Stoffe in den Vereinigten Staaten öffentlich gefördert. Eine vergleichbare Regelung in Deutschland steht immer noch aus.

3Bundessozialgericht, Az. B 1 KR 21/02 R

4Zu Qualität und Wirkungsweise eines Arzneimittels muss es vielmehr zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen in dem Sinne geben, dass der Erfolg der Behandlungsmethode in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegt ist. Nach der Rechtsprechung des BSG fehlt es daher an der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit speziell einer Arzneimitteltherapie, wenn das verwendete Mittel nach den Regelungen des Arzneimittelrechts einer Zulassung bedarf und diese Zulassung nicht erteilt worden ist. (a.a.O)

5§ 12 SBG V – Wirtschaftlichkeitsgebot

(1) Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.

6Musterbescheinigung mit Literaturangeben und Abstacts (Nitoman-Musterbescheinigung als PDF-Dokument)

7Pressemitteilung des Bundessozialgerichts zur Entscheidung vom 27.10.2004, Az. B 1 KR 27/02 R

(Die schriftliche Urteilsbegründung ist leider bislang noch nicht veröffentlicht.)

8§ 135 SBG V – Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden

(1) Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen auf Antrag einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder eines Spitzenverbandes der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 Empfehlungen abgegeben haben über

1. die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit – auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachte Methoden – nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung,

2. die notwendige Qualifikation der Ärzte, die apparativen Anforderungen sowie Anforderungen an Maßnahmen der Qualitätssicherung, um eine sachgerechte Anwendung der neuen Methode zu sichern, und

3. die erforderlichen Aufzeichnungen über die ärztliche Behandlung.

Die Bundesausschüsse überprüfen die zu Lasten der Krankenkassen erbrachten vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Leistungen daraufhin, ob sie den Kriterien nach Satz 1 Nr. 1 entsprechen. Falls die Überprüfung ergibt, daß diese Kriterien nicht erfüllt werden, dürfen die Leistungen nicht mehr als vertragsärztliche oder vertragszahnärztliche Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden. Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen stimmen ihren Arbeitsplan und die Bewertungsergebnisse nach Satz 2 mit dem Ausschuss Krankenhaus (§ 137c) ab.