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A. Gerlach, S. Ross, G. Fuss

In diesem Text stellen wir die Entwicklung der reifen sexuellen Liebe dar. Otto Kernberg hat unseres Erachtens viele wichtige Aspekte in seinem Buch „Liebesbeziehungen-Normalität und Pathologie” dargestellt. Wir haben für uns diese Darstellung akzentuiert und insbesondere wichtige Aspekte herausgegriffen, die in der Arbeit mit Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, von Bedeutung sind.
Dieser kleine Ausschnitt soll Sie dazu anregen, mehr von Otto Kernberg zu lesen:
 


Otto Kernberg „Liebesbeziehungen”

Reife sexuelle Liebe und das sexuelle Paar

Kernberg unterscheidet grundsätzlich drei Bereiche der Paarinteraktion:
1. die tatsächliche sexuelle Beziehung des Paares,
2. die bewußt und unbewußt vorherrschenden Objektbeziehungen,
3. die Errichtung eines gemeinsamen Ich-Ideals.

Sexuelle Konflikte zwischen den Partnern sind das Terrain, auf dem sich Ehekonflikte und unbewußt mobilisierte Objektbeziehungen üblicherweise äußern. Die sexuellen Konflikte sind nach Kernberg ein Spiegel der Beziehung. Daraus resultieren wiederum Konflikte.
Im Bereich der Sexualität werden in der Regel die Konflikte einer BEZIEHUNG am deutlichsten inszeniert.
 

Die Fähigkeit zur reifen sexuellen Liebe macht sich seines Erachtens in den oben genannten drei Bereichen deutlich.
In diesen drei Hauptbereichen ist die Integration von Libido und Aggression / von Liebe und Hass notwendig, wobei die Liebe den Hass überwiegen sollte.
Dies ist aus Sicht des AP Dortmund eines unserer Hauptanliegen in der Arbeit mit Frauen die sexuelle Gewalt erlebt haben.

Das Tolerieren von Ambivalenz ermöglicht es, dass Szenarien aktiviert und verinnerlichte pathogene Objektbeziehungen aus der Vergangenheit zum Gegenstand projektiver Identifizierung werden.
Das Paar kann dadurch Aggression als einen Teil der ambivalenten Beziehung zulassen, eine ungemeine Bereicherung erfahren und jene Tiefe der Beziehung sicherstellen, die bereits als Bestandteil von Balints „genitaler Identifizierung” oder von Winnicotts „Besorgnis” herausgestellt worden ist. Exzessive Aggression aber birgt die Gefahr, dass nicht tolerierbare Konflikte entstehen und die Beziehung zerbricht.

Neben der Aggression als eine wichtige Komponente der sexuellen Erregung, ist auch das Geheimnis aus Kernbergs Sicht hierbei von besonderer Bedeutung. Das Geheimnis löst sexuelle Phantasien aus, ebenso wie es sie widerspiegelt. Otto Kernberg bleibt bei seiner Definition über das Geheimnis der sexuellen Erregung selbst geheimnisvoll. Er versucht das Geheimnis zu beschreiben, bleibt aber bei einer Beschreibung.
Angeregt durch seine Beschreibung, verstehen wir unter Geheimnis, dass trotz symbiotischer Wünsche und Zustände im Bereich der Sexualität,  ein Rest an „Geheimnis” gibt.
Insbesondere die präödipalen Beziehungsaspekte, die wir in einer Liebesbeziehung widerbeleben, bleiben für uns selbst und unsere Partner/ innen „geheim”. Der Respekt in einer Liebesbeziehung verbietet uns sogar gewisse Dinge, die unser Intimleben betreffen, aufzudecken. Dies könnte entblößend wirken.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, sich der sexuellen Hemmung des Partners, seiner Eingeschränktheit oder seinen Zurückweisungen entgegenzustellen, anstatt ihn wütend abzulehnen, zu entwerten oder sich seiner sexuellen Hemmung in masochistischer Weise zu unterwerfen. Dies ist ein Zeichen für stabile genitale Identifizierung!

Die Entwicklung der Fähigkeit zur integrierten Objektbeziehungen oder Ganzobjektbeziehungen setzt das Erreichen der Ich-Identität und ebenso der Stufe intensiver Objektbeziehungen voraus; dadurch wird es möglich, intuitiv einen Menschen zu wählen, der den eigenen Wünschen und Zielen entspricht.

Außerdem sind an dem reifen Wählen des Menschen, den man liebt und mit dem man sein Leben verbringen will, reife Ideale, Wertvorstellungen und Ziele beteiligt, die über die Befriedigung der Bedürfnisse nach Liebe und Intimität hinaus dem Leben mehr Sinn verleihen.
 

All diese genannten Punkte sind wichtige Vorraussetzungen um eine reife sexuelle Liebe in einer Paarinteraktion zu erleben.
Jedoch ist das Gleichgewicht zwischen Liebe und Aggression ein dynamisches, die Integration und Tiefe der Beziehung ist potentiell instabil.
Selbst unter scheinbar vielversprechenden und sicheren Bedingungen verschieben neue Entwicklungen manchmal das Gleichgewicht.
Wenn die Fähigkeit zu tiefer Liebe wächst und wenn man im Laufe der Jahre einschätzen kann, wie jemand anders in das eigene persönliche und gesellschaftliche Leben hineinpassen würde, dann findet man vielleicht auch andere Menschen, die, realistisch gesehen, ein gleichermaßen befriedigender oder gar besserer Partner wären.
Doch Verzicht und Sehnsucht können dem Leben des Individuums und des Paares auch größere Liebe verleihen, und das Umlenken von Sehnsüchten, Phantasien und sexuellen Spannungen in die bestehende Paarbeziehung kann dem Liebesleben eine dunkle und komplexe Dimension hinzufügen.
Schließlich müssen alle Beziehungen zwischen Menschen einmal zu Ende gehen, und die Drohung von Verlust, Verlassenwerden und letztlich des Todes ist am größten, wo die Liebe am tiefsten ist; sich dessen bewusst zu sein, verleiht der Liebe noch größere Tiefe.

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