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Julia Klippert

Beratungsarbeit mit sexuell missbrauchten Frauen



Inhaltsverzeichnis






1. Einleitung

Berichterstattungen über sexuellen Missbrauch sorgen in der Öffentlichkeit immer wieder für Empörung. Auf kaum eine andere Straftat reagieren die Menschen so angeekelt und entrüstet. Sie fordern höhere Strafen für die Täter und bemitleiden die Opfer. Kinderschänder werden in der Gesellschaft in keiner Weise toleriert, sie sind Unmenschen und werden aus der Gesellschaft ausgeschlossen.
Im Zusammenhang mit dem Thema sexuellen Missbrauch gibt es viel Literatur, denen zum Teil leider der objektive Blickwinkel fehlt. Die Autoren tragen mit Schauergeschichten zur Empörung bei, wecken im Leser angewiderte und entrüstete Gefühle und regen im Weiteren seine Phantasien an. Außerdem wird hier in „Gut” und „Böse” gespalten, wobei die „Guten” grundsätzlich die Opfer und die „Bösen” grundsätzlich die Täter sind. Dabei können sich auch die Autoren dieser Bücher auf die gute und somit auf die sichere Seite stellen. Kritiker dieser Arbeitsweise werden von diesen Autoren aufs schärfste verurteilt.
Wer sich gerade mit dieser Literatur beschäftigt, wird bald in jedem Vater, der mit seiner Tochter schmust, in jedem Lehrer und in jedem Pädagogen, vielleicht sogar in jedem Mann einen potentiellen Täter sehen und in jedem „auffälligen” Kind ein potentielles Missbrauchsopfer. Wie viel Schaden sie damit anrichten können, ist ihnen nicht bewusst. Denn gerade diese Denkweise hat wahrscheinlich dazu geführt und wird auch in Zukunft dazu führen, dass Personen zu Unrecht als Missbraucher bzw. Missbraucherin verurteilt worden sind bzw. werden. Beim Inzest wird dabei im schlimmsten Fall eine ganze Familie zerstört.
Diese Arbeit soll weder empören noch den sexuellen Missbrauch herunterspielen.
Mir ist es wichtig, dieses sensible Thema zu versachlichen. Sexueller Missbrauch ist eine schlimme und traumatisierende Erfahrung für Kinder. Auch im Erwachsenenalter und praktisch ihr Leben lang müssen sie unter den Folgen leiden.
Für Sozialarbeiter/innen ist es wichtig, eine gewisse Distanz zu diesem Thema zu wahren, um objektiv bleiben zu können und nicht vorschnell Partei für oder gegen jemanden zu ergreifen.
Im Umgang mit Mädchen und Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, soll den Betroffenen bewusst gemacht werden, dass sie den sexuellen Missbrauch überlebt haben und nun aus eigener Kraft heraus ihr Leben eigenverantwortlich und selbstbewusst gestalten können und sollten.

In dieser Arbeit sollen einige wichtige Aspekte für die Beratungsarbeit mit missbrauchten Frauen (und auch Männern) erläutert werden.
Zunächst möchte ich etwas über das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs schreiben, wobei ich zwei verschiedene Positionen kurz vorstellen und ein Fazit für die Sozialarbeiter ziehen möchte.
Danach wird das Problem des sexuellen Missbrauchs in den sozialen Kontext gestellt, wobei auf die geschlechtsspezifische Sexualität und Aggression, sowie auch auf die Stellung von Mann und Frau in unserer Gesellschaft hingewiesen werden soll.
In dem Kapitel über die Psychodynamiken des sexuellen Missbrauchs werden einige Aspekte der Täter-Opfer-Beziehung und des Erlebens der Opfer dargestellt. Als wichtig erschienen mir im Zusammenhang auch die Familiendynamik sowie die Beziehung der Opfer zu der Mutter. Der Schwerpunkt liegt hier beim Inzest, eines der wohl interessantesten Themen im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch. Es geht darum zu analysieren, inwiefern die Familiendynamik und die Beziehungen innerhalb der Familie zum sexuellen Missbrauch „beitragen” und welche vielleicht auch unbewussten Aspekte eine Rolle spielen können.
In dem Kapitel über die Täter befasse ich mich mit einzelnen, möglichen Problemen des Täters und versuche einen Einblick in seine Psyche zu bekommen. Es ist hier aber wichtig zu erwähnen, dass dieses Kapitel keine allgemeingültigen Fakten enthält und die hier aufgeführten Punkte nicht als Raster, das auf jeden Täter angewendet werden kann, gesehen werden darf. Auch hier handelt es sich um Menschen mit ihrer individuellen Lebensgeschichte und mit ihrer Persönlichkeit.
Im darauf folgenden Kapitel werden einige der möglichen Folgen behandelt. Es handelt sich hier, wie das Kapitel schon sagt, um mögliche Folgen und Erkrankungen, unter denen die missbrauchten Frauen und Männer nicht unbedingt leiden müssen aber eventuell können. Andersherum kann auch nicht gesagt werden, dass Männer und Frauen, die an den beschriebenen Erkrankungen und Störungen leiden, zwangsläufig sexuell missbraucht worden sind.
Nach diesen Kapiteln, die ein Hintergrundwissen für die Arbeit mit sexuell missbrauchten Frauen bilden, kommt nun ein Kapitel über die Beratungsarbeit mit missbrauchten Frauen. Neben den möglichen Inhalten, sollen hier auch „Instrumente” der Beratungsarbeit und mögliche Probleme behandelt werden. Daneben wird auch zu der „herkömmlichen” Beratungsarbeit von feministischen Beratungsstellen kritisch Stellung genommen.
Im Schlusswort werde ich zu den Erkenntnissen Stellung beziehen und ein Fazit für die Arbeit mit sexuell missbrauchten Frauen ziehen.




2. Kurze Einführung in die Problematik des sexuellen Missbrauchs

Es ist sehr schwierig, eine zufriedenstellende Einführung über das Ausmaß und die Hintergründe auszuarbeiten, wenn man die vielfältige Literatur betrachtet.
Viele Thesen werden von ihren Kritikern bezweifelt oder widerlegt.
Ich möchte gerne in diesem Kapitel beide Positionen näher erläutern.
Zunächst gibt es verschieden Definitionen vom „sexuellen Missbrauch”, die folglich auch verschiedene Zahlen über das Ausmaß liefern.
Was eigentlich alle Definitionen gemeinsam haben ist, dass sexueller Missbrauch eine grenzüberschreitende und erzwungene Sexualbeziehung ist, wobei die Abhängigkeit des Kindes von einem Erwachsenen ausgenutzt wird. Macht und Autorität wird von dem Missbraucher ausgenutzt und es entwickelt sich eine nicht-altersgemäße Form der Sexualität.
Die Meinungen gehen dann auseinander, wenn darüber gesprochen wird, wann sexueller Missbrauch beginnt und traumatisierend wird.
So vertreten Feministinnen den Standpunkt, dass sexueller Missbrauch schon bei verletzenden Redensarten und Blicken oder auch bei abschätzigen oder auch wohlwollenden Qualitätsurteilen beginnt. Dazu gehören auch exhibitionistische oder voyeuristische  Handlungen, wie z.B. dem Kind beim Ausziehen zusehen oder pornographische Filme zeigen. Dieser Standpunkt hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass sich diese Definitionen aus der Beratungsrolle der Frauen ergeben haben. Sie haben sich in der Praxis mit verschiedenen Fällen von sexuellem Missbrauch auseinandergesetzt und somit aus den verschiedenen Einzelfällen eine Definition gebildet.
Mit einer sehr weit gefassten Definition kommen dann bei Umfragen und Studien auch höhere Zahlen über das Ausmaß heraus.
Studien und Umfragen z.B. von Dirk Bange und auch anderen Autoren ergaben, dass 25 Prozent der Mädchen und 8 Prozent der Jungen sexuell missbraucht wurden. Dabei wurde in dem „Fragebogen mindestens eine der zehn Fragen nach unangenehmen sexuellen Erlebnissen in ihrer Kindheit mit „Ja” beantwortet...”  Bei der Deutung dieser Zahlen muss berücksichtigt werden, dass hier auch „Sexueller Missbrauch ohne Körperkontakt”, wie z.B. Exhibitionismus und „Weniger intensiver sexueller Missbrauch”, wie z.B. sexualisierte Küsse, aber in dem Gesamtausmaß mit berücksichtigt wurden, obgleich sie auch einzeln betrachtet und dadurch differenziert werden. Dies erklärt vielleicht auch, dass die meisten Frauen und Männer „nur” einmal sexuellen Missbrauch erlebt haben.
Bei einer in den Büchern genannte Studie von Diana Russell (1984) kam sogar eine Zahl von 54% Frauen heraus, die Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind. Für sie galt ein Kind als Opfer sexuellen Missbrauchs, wenn es gegen seinen Willen umarmt oder geküsst worden ist, oder wenn es einem Exhibitionisten begegnet ist.
Kritiker sehen diese Studien als nicht repräsentativ an, da es sich um „Erhebungen des Vorkommens von im nachhinein als Misshandlung definierten Ereignissen” handelt.  Es handelt sich hier um „wenige Einzelerfahrungen mit sexuellen Handlungen” und „heben häufig allein auf  subjektive Erinnerungen von Erfahrungen ab, die im übrigen in ihrem Schweregrad und nach Versuch und Ausführung oft nicht weiter differenziert werden.”
Kritiker gehen von Polizeistatistiken, Jugendhilfestatistiken und klinischen Daten aus, die eine weit aus niedrigere Zahl wiedergeben. Sie ziehen außerdem Statistiken der USA heran, die sie als repräsentativ erachten. Nach diesen Untersuchungen werden in Amerika 3 von 1000 Kindern missbraucht, also weniger als nach Studien in Deutschland.
Neben den Aussagen über das Ausmaß wird außerdem die so genannte „Dunkelfeldproblematik” genannt.

Die Angabe der Dunkelziffer von bis zu 300.000 Missbrauchsfällen im Jahr, (sehr weit über die polizeilichen Kriminalstatistik von ca. 11.000 im Jahr hinausgehend), halten Kritiker für überhöht und falsch, obwohl sie auch davon ausgehen, dass nicht alle Missbrauchsfälle zu Anzeige kommen. Michael C. Baurmann sagt dazu: „Ich habe verschiedentlich versucht, diese fehlerhaften Dunkelfeldschätzungen richtig zu stellen. Ich habe allerdings den Eindruck, dass eine solche Klärung bei manchen Expertinnen und Experten unerwünscht ist, weil sie anscheinend der Meinung sind, ein wichtiges soziales Problem -was sexuelle Gewalt zweifellos ist- könne erst dann „richtig” angegangen werden, wenn die statistischen Angaben möglichst atemberaubend sind.”
Sexueller Missbrauch geschieht in den meisten Fällen im persönlichen Umfeld des Kindes. Die Täter sind zum größten Teil (nach den verschiedenen empirischen Studien 50 % und mehr) Familienangehörige, nähere Verwandte und Bekannte.
Zwar kommt sexueller Missbrauch in allen sozialen Schichten vor, doch wird belegt, dass Unterschichtsverhältnisse und in Verhältnisse sozialer Isolation das Missbrauchsrisiko erhöhen. Auch die Familienkonstellation soll eine Rolle spielen. So ergeben empirische Untersuchungen, dass besonders in moralischen und rigiden Familien, aber auch in Scheidungsfamilien bzw. neu zusammengesetzten Familien (Wiederheirat der Mutter) häufiger sexueller Missbrauch vorkommt.
Zu bemerken ist außerdem, dass auch Frauen Kinder missbrauchen, wenn auch nach statistischen Angaben weitaus weniger als Männer und nicht nur Mädchen sind die Opfer, sondern auch Jungen.
Untersuchungen zu Folge beginnt der sexuelle Missbrauch weit vor der Pubertät. Die Dauer des Missbrauchs reicht von einmaligen Grenzüberschreitungen bis zu jahrelangen Traumatisierungen.

Es stellt sich nun die Frage, inwieweit diese Zahlen für Sozialarbeiter/innen interessant sein könnten.
Ich glaube, dass diese Zahlen eine eher zweitrangige Rolle spielen.
In der Beratung wird zweifellos am und mit dem Einzelfall und an dem individuellen Schicksal gearbeitet. Dabei spielt es in diesem Moment keine Rolle, ob in der Beratungsstelle 2 oder 10 Fälle bearbeitet werden.
Anhand der Zahlen können wir eine Momentaufnahme sehen, doch ob und inwieweit sexueller Missbrauch traumatisierend ist, hängt vom Einzelfall ab. Dabei sehen wir zwar, wie viele Frauen und Männer schon mal sexuell missbraucht worden sind, wer die Täter sind, usw., doch können wir daraus nicht schließen, wie traumatisierend diese Erlebnisse für die Menschen gewesen sind. Dies hängt u.a. von der Art und Dauer der sexuellen Handlungen, Alter und Persönlichkeit des Kindes ab. Das heißt, wir können aus den sexuellen Handlungen und den Folgen keinen Kausalzusammenhang bilden („Wenn ein Kind X erlebt, wird es an der Folge Y leiden”) Der Mensch muss mit seinem erlebten Trauma also individuell betrachtet werden.
Sexualisierte Bemerkungen vom Vater z.B. können die Tochter sehr verletzen, andere Frauen würden den Äußerungen vielleicht keine große Bedeutung beimessen.
Langzeitstudien könnten hier ggf. für die Beratungsarbeit interessanter sein.
In den folgenden Kapiteln möchte ich tiefer auf einzelne, für die Arbeit mit Betroffenen wichtigen Aspekte eingehen.




3. Soziologische Aspekte des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Gewalt

Das Problem des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Gewalt sollte nicht nur einzelfallbezogen, sondern auch in einem größerem Zusammenhang gesehen werden, so dass man sich auch mit einigen soziologischen Aspekten auseinander setzen muss.
Die Gesellschaft bildet den Rahmen, in dem sich das Verhältnis der Geschlechter und ihrer Sexualität strukturieren. Sexuelle Gewalt ist daher ein gesellschaftliches Problem.
Für mich stellt sich die Frage, warum anscheinend gerade Männer so häufig zu Gewalt bzw. sexueller Gewalt neigen und so häufig in der Kriminalstatistik erscheinen? Wieso sind Männer meist die Täter und Frauen die Opfer?
Feministinnen gehen hier von einem patriarchalen System aus und sind der Meinung, dass Männer über Frauen und Kinder bestimmen und dadurch unterdrücken. Diesen Standpunkt möchte ich im Folgenden diskutieren.
Sexualität und Aggressionen gehören zu den Grundbedürfnissen des Menschen, sie gehören also zum Menschsein dazu -sowohl beim Mann als auch bei der Frau. Es stellt sich nun für mich die Frage, wie die Geschlechter diese Bedürfnisse ausleben und warum auf den ersten Blick nur Männer zu sexueller Gewalt neigen.
Männer und Frauen leben ihre Aggressionen unterschiedlich aus. Frauen leben ihre Aggressionen nicht wie die Männer offen und aktiv, sondern eher in passiver Weise aus, indem sie eine Vorwurfs- und Opferhaltung einnehmen.
Bei der Frage nach einem patriarchalen System und der geschlechtsspezifischen Aggressionen stellt sich auch gleichzeitig die Frage nach geschlechtsspezifischer Macht.
Da Männer in den „oberen Etagen” der Gesellschaft „das Ruder in der Hand haben”, erscheinen sie in der Gesellschaft als beinahe alleinige Inhaber von Macht. Frauen dagegen erscheinen machtlos, da sie sich den männlichen Entscheidungen beugen müssen.
Ist es denn wirklich so, dass Frauen machtlos und vom Mann abhängig sind?
Da sich Männer in den „oberen Etagen” der Gesellschaft angesiedelt haben, üben Frauen ihre Aggressionen und ihre Macht überwiegend aus der „zweiten Reihe”, also innerhalb der Familie aus und bleiben dabei eher unauffällig im Hintergrund. Diese Macht wird auch „Versorgungsmacht”        genannt. Frauen geben der Familie emotionalen Halt, bestimmen mehr oder weniger den Alltag und haben dadurch innerhalb der Familie meist „das Ruder in der Hand”. Dies hat zur Folge hat, dass auch Männer von Frauen abhängig sind.
Sexuelle Gewalt wird von Männern mit Zwang und körperlicher Gewalt durchgesetzt, Frauen können ihre Macht dem Mann gegenüber z.B. dadurch ausüben, indem sie durch Verführung den Mann erregt oder dass sie sich sexuell enthält. Diese Form von Gewalt wird nur nicht beachtet, da eine Frau dafür auch nicht juristisch zu belangen ist.
Eine Ursache für die unterschiedlichen Formen von sexueller Gewalt bzw. den unterschiedlichen Machtverhältnissen ist die geschlechtsspezifische Sozialisation.
Mit geschlechtsspezifischer Sozialisation sind Prozesse gemeint, durch die ein Individuum Haltungen, Normen, Werte, emotionale Reaktionen und Persönlichkeitseigenschaften erwirbt, die für seine Geschlechterrolle als passend definiert wird. Die Botschaften werden durch die Erziehungsbotschaften der Eltern und der Umwelt vermittelt.
Dazu findet eine Zuweisung von Spielzeug, Kleidung, Büchern und Fernsehsendungen statt.
Das heißt, Mädchen und Jungen lernen praktisch von Anfang an, wie sie sich gemäß der Erwartungen unserer Gesellschaft „typisch weiblich” bzw. „typisch männlich” verhalten müssen. Kinder werden in ihrem „richtigen” Verhalten bestärkt und gelobt, bei eher geschlechtsuntypischen Verhaltensweisen nicht bestärkt oder gar getadelt. So werden Mädchen, wenn sie aggressives Verhalten zeigen eher Schuldgefühle vermittelt, bei Jungen erhöht sich eher das Selbstwertgefühl.
Die Kinder identifizieren sich mit weiblichen bzw. männlichen Vorbildern und bilden so ihre Geschlechtsrollenidentität.
In der primären Sozialisation ist dieser Prozess zunächst bei den Jungen etwas schwieriger, da sie meistens von dem andersgeschlechtlichen Erwachsenen -der Mutter- großgezogen werden. Während sich die Mädchen mit der Mutter identifizieren, bildet sich bei den Jungen die Geschlechtsrollenidentität durch Abgrenzung von der Mutter. Dadurch ist die Wahrscheinlichkeit der Autonomieentwicklung bei den Jungen höher als bei den Mädchen.
Durch die Sozialisation erwerben Frauen und Männer ihre Geschlechterrolle. Sie verhalten sich nun so, wie die Gesellschaft es von ihnen erwartet, also wie sie sich kleiden, sprechen, verhalten, bewegen, etc.
Von Frauen wird erwartet, dass sie keine körperlichen Aggressionen zeigen, für andere sorgen, freundlich sind und auf ihr Äußeres achten. Den Frauen werden eher emotionale Kompetenzen zugeschrieben.
Von Männern wird erwartet, dass sie sich physisch und sexuell durchsetzen können, unabhängig, kompetent und emotional robust sind. Die Autonomieanforderungen und der Aufbau von Widerstandsfähigkeit führen dazu, dass Männer eine emotionale Distanz aufbauen müssen, dass sie eine gewisse Härte ihren Gefühlen und den der Anderen entgegenbringen müssen.
Mädchen machen die Erfahrung, dass ihre Geschlechterrolle mit mehr Einschränkungen und geringerem sozialen Status verbunden ist als die männliche, wenn z.B. in der Schule oder in der Familie Jungen bevorzugt werden oder der Vater in der Familie „das Sagen” hat. Männer sind für die materielle Absicherung der Familie, für die Regelung gesellschaftlicher und politischer Konflikte, etc. zuständig, Frauen für die Erziehung der Kinder und für den Haushalt. Mädchen werden in ihrer Autonomie nicht bestärkt und lernen passives Verhalten. Dadurch werden sie auch zum Opfer erzogen.
So wichtig die geschlechtsspezifische Sozialisation für die Identitätsfindung auch ist, genauso bedauerlich ist es, dass Kinder ihre Persönlichkeit nicht nach ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen ausleben können. Diese Vorgaben werden von der Gesellschaft gegeben.
Die Aggressionen werden von Frauen nicht so offensichtlich ausgelebt, wie bei den Männern, da sie während der Sozialisation gelernt haben, sich eher passiv zu verhalten und im Hintergrund zu bleiben. Dies können Frauen für sich nutzen, indem sie in der Opferrolle bzw. in der Rolle der Unschuldigen bleiben und Männer in der Verantwortung lassen.
Auch beim sexuellen Missbauch befinden sich Frauen in der Öffentlichkeit als Opfer und als Unschuldige auf der sicheren Seite.
Frauen sind nicht nur Opfer, sondern selbstverantwortliche Individuen und tragen die Mitverantwortung für ihre Situation. Im Gegensatz zu früheren Zeiten sind Frauen stark und können ihr Leben eigenverantwortlich gestalten. Auch wenn sie in einigen Bereichen, wie z.B. beruflich im Gegensatz zu den Männern einen schwierigeren Aufstieg haben können sie für die Erlangung ihrer Ziele kämpfen.
Durch die Sozialisation werden von Frauen und Männern Rollenmuster und Identitätsbilder internalisiert. In filmischen Darstellungen z.B. wird aggressives Verhalten meist mit der männlichen Rolle verknüpft. Körperliche Gewalt geht mehr von Männern als von Frauen aus. Gefährlich wird es, wenn Jungen und Männer Gewalt als legitimes Mittel für Konfliktlösungen verstehen. Mädchen haben dabei nicht die Verhaltensmuster der Jungen, das heißt sich auch zur Wehr zu setzen und sich selber zu schützen. Sie schützen sich mit Hilfe eines Mannes vor Aggressionen.
Trotz des Wandels der Gesellschaft gibt es immer noch Männer, die Frauen und Kinder als Eigentum ansehen und sie vergewaltigen bzw. missbrauchen.
H.-C. Harten  geht davon aus, dass Sexualität und Macht bei diesen Männern eng zusammenhängen. „Sexuelle Erfolge gehören zum männlichen Prestige und werden daher in der männlichen Kultur hoch bewertet. Frauen werden dadurch zu potentiellen Opfern der Eroberung.” Männer können sich dadurch aufwerten und ihr Selbstwertgefühl steigern, indem sie ihre Sexualität als ein Mittel von Macht instrumentalisieren, „um Frauen unter Kontrolle zu halten”. Männliche Sexualität bedeutet auch Stärke. Wichtig ist dabei zu erwähnen, dass dies nicht für alle Männer gilt, sondern insbesondere für Männer, bei denen die traditionellen und patriarchalischen  Rollenauffassungen präsent sind und die ein unsicheres Selbstwertgefühl haben (mehr dazu im Kapitel 5.5). Während Gewalt zwischen Männern eher auf Konfliktlösungen abzielen, richtet sich die Gewalt gegen Frauen gegen die Frau.
Wie schon erwähnt, bildet sich die Geschlechtsidentität der Jungen durch die Abgrenzung von der Mutter. Harten geht davon aus, dass die Sexualisierung der Gewalt dadurch kommt, dass die Identität der Jungen durch die Abgrenzung von der Mutter stärker durch das Geschlecht definiert wird als bei Mädchen. Dadurch beschäftigen sie sich mehr mit dem Geschlechtsunterschied und differenzieren sich stärker nach dem Geschlecht als Mädchen. Der männliche Narzissmuss braucht einen „Beweis für eine gelungene männliche Identität”, den er durch sexuelle Kompetenz und Leistungsfähigkeit, und ihre Belohnung und Bestätigung durch die Frau bekommt. Hier haben Frauen die Macht in der Geschlechterbeziehung. Es entwickelt sich eine Tendenz zur Sexualisierung von Gefühlen und Beziehungen. Bedürfnisse nach Macht und Zuwendung werden mit sexuellen Wünschen verknüpft.
Die Sexualisierung von Aggressionen ist ein Beispiel für die Sexualisierung von Gefühlen und Bedürfnissen. H.-C. Harten sagt außerdem, dass Männer Angst davor haben, gegenüber Frauen nicht bestehen zu können und diese Ängste Aggressionen auslösen können.
Es können auch Erinnerungen von der Mutter hochkommen. Die Psychoanalyse geht z.B. davon aus, dass sexuelle Aggressionen von Männern auf negative Kindheitserlebnisse, wie Ablehnung, Gewalt, der Beherrschung oder auch die sexuelle Verführung durch die weibliche Bezugsperson zurückzuführen sind.

Frauen haben sich in den letzten Jahren ihre derzeitige Position hart erkämpft. Sie können nun ihren Weg frei wählen, denn ihr Lebensweg bzw. ihre Rolle in der Gesellschaft ist flexibler geworden und nicht mehr starr vorgegeben. Wie schon erwähnt sind Frauen nicht unbedingt von den Männern abhängig. Natürlich gibt es noch immer Benachteiligungen, wie z.B. die in manchen Bereichen schlechter Bezahlung von Frauen, die sie in manchen Fällen in die Rolle der Hausfrau und Mutter zwingt. Dennoch glaube ich, dass sich heute viele Frauen gerne für diese Rolle entscheiden, weil sie dann eine berufliche Pause machen können und sie ihre Mutterrolle ausüben können.
Man kann daher nicht, bzw. nicht ohne Einschränkungen sagen, unsere Gesellschaft hätte ein patriarchales System. Feministische Gruppen beharren auf diesem Standpunkt, sehen sich in der Opferrolle und Männer in der Täterrolle. Diese Meinung spaltet nicht nur in fast kindlicher Weise in „Gut” und „Böse”, sondern hat zum Teil sogar männerfeindliche Züge.
In der Beratung sollte diese strikte und unflexible Teilung aufgehoben werden. Dies bedeutet nicht, dass Männer, die sexuell missbraucht haben, aus der Verantwortung genommen werden sollen und keine Täter sind. Im Gegenteil sollen Frauen als eigenverantwortliche Wesen betrachtet werden, die auch einen Teil zu ihrer jetzigen Situation beigetragen haben. Es soll ihnen bewusst gemacht werden, dass sie in der Lage sind, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten. Männer sollten nicht immer als Alleinschuldige, Frauen nicht ausschließlich als Unschuldige gesehen werden.
 




4. Fallbeispiel

Dieses Fallbeispiel soll auf der einen Seite zeigen, wie schwierig es ist, mit sexuell missbrauchten Frauen zu arbeiten und auf der anderen Seite, wie wichtig es ist, über psychologische Kenntnisse zu verfügen.
Es ist mir ein Anliegen zu zeigen, dass man Frauen durch eine inkompetente Beratung eher schaden als helfen kann.
Die Distanz zu dem Thema und das Fachwissen sollen dabei helfen, einen fachkundigen Zugang zu der Problematik und letztendlich auch zum  Einzelfall zu bekommen, um schließlich eine verantwortungsbewusste Arbeit leisten zu können.
Nun aber zum Fallbeispiel:
Frau S. kommt in die Beratungsstelle, weil sie ihren sexuellen Missbrauch aufarbeiten möchte. Seit mehreren Jahren ist sie psychisch krank und nimmt Psychopharmaka, deren Dosis sie in den letzten Wochen immer weiter herunter gesetzt hat. Eine psychologische Beratung, die ihren jetzigen gesundheitlichen Zustand  stabilisieren soll, soll in ca. 3 Wochen beginnen. Die Settings finden dann alle 3 Wochen statt.
Frau S. teilt der Beraterin mit, dass die Psychologin ihr davon abgeraten habe, den sexuellen Missbrauch aufzuarbeiten, da es jetzt darum ginge, sie psychisch zu stabilisieren. Frau S. wolle daher zu einer Beratungsstelle, bei der sie über ihren sexuellen Missbrauch sprechen könne.
Die Beraterin erklärt Frau S., dass sie durch die Herabsetzung der Psychopharmaka und der relativ stabilen Situation große Erfolge erzielt habe. Sie unterstützt die Meinung der Psychologin, dass eine Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs schwierig und belastend sein könne. Daher sollte alles vermieden werden, was ihre jetzige Lage verschlechtern könnte.
Die Beraterin sagt außerdem, dass die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs mit einem Psychoanalytiker geschehen müsse. Dies würde eine sehr intensive Beratung sein, die 2-3-mal in der Woche stattfinden würde. Dies würde für die Klientin bedeuten, dass sie eine Beziehung zu dem Psychoanalytiker aufbauen müsste und das Bearbeiten von Kindheitserlebnissen psychisch sehr belastend sein könne. Es ginge ja im psychoanalytischen Setting darum, unbewusste Dynamiken und die daraus resultierenden Verhaltensweisen und Gefühle bewusst zu machen, so dass der Psychoanalytiker Einblick in die Psyche der Klientin erhalten würde.
Aus diesem Grunde solle sich Frau S. überlegen, ob sie den sexuellen Missbrauch wirklich aufarbeiten möchte, oder ob darauf nicht verzichtet werden sollte. Es ginge darum, ob eine Bearbeitung wirklich zu einer Verbesserung der Lage beitragen würde.

An diesem Beispiel wird klar, wie wichtig es ist, eine gewisse Distanz zu dem Thema „Sexueller Missbrauch” zu wahren.
Gerade bei psychisch kranken Menschen kann es gefährlich sein, gleich auf die Bedürfnisse einzugehen und eine therapieähnliche Sitzung bzw. Beratung durchzuführen. Möglicherweise kann dies der Klientin eher schaden als nützen (z.B. durch die Unterstützung eines psychotischen Schubes) In diesen Fällen ist zu überlegen, ob der Klientin eine Aufarbeitung etwas nützt, oder ob nicht darauf verzichtet werden sollte. Würde es etwas an der Situation der Klientin ändern?
Bei Frau S. stellt sich hierbei auch die Frage, ob die Psychose Folge vom sexuellen Missbrauch ist, oder ob nicht vielleicht der sexuelle Missbrauch eine „Folge” der Psychose ist. Dann muss man sich auch die Frage stellen, ob das Gesagte der Wahrheit entspricht oder „nur” Phantasien der Klientin sind.
Dennoch könnte das Verhalten von Frau S. z.T. ein Hinweis auf sexuellen Missbrauch sein, den man allerdings ohne Psychotherapie nicht belegen kann.
Da man in der Praxis keinen Fall finden kann, auf den man alle Kapitel dieser Arbeit beziehen kann, wird Frau S. nur ihn einigen Kapitel wieder „auftauchen”. Es geht dabei um mögliche Ableitungen, um Eventualitäten, die stimmen können aber nicht stimmen müssen.




5. Psychodynamiken des sexuellen Missbrauchs



5.1. Täter-Opfer-Beziehung

Wie schon im vorigen Kapitel erwähnt, besteht schon vor Beginn des sexuellen Missbrauchs eine vertrauensvolle Beziehung zwischen dem Kind und dem Missbraucher.
Der Vertrauensverlust, den das Kind erfährt, trägt vielleicht viel mehr zu Trauma bei, als die sexuellen Handlungen selber. Dies trifft insbesondere beim Inzest zu, denn gerade die Familie gilt als Ort des Schutzes, der Sicherheit und des Vertrauens. Kinder sind auf Körperkontakt und Zärtlichkeiten mit Erwachsenen angewiesen. Dies muss vom sexuellen Missbrauch abgegrenzt werden. Dies erweist sich -von außen betrachtet- als nicht ganz einfach. Fast alle Autoren gehen davon aus, dass sexueller Missbrauch dann beginnt, wenn ein Erwachsener diese Zärtlichkeiten zur Befriedigung der eigenen sexuellen Bedürfnisse ausnutzt.
Missbraucht ein Vater seine Tochter, kommt es zur Verwirrung des Mädchens. Auf der einen Seite ist da der liebevolle Vater, auf der anderen Seite spürt das Kind, dass manche Handlungen des Vaters nicht richtig sind.
Im Folgenden soll auf die wichtigsten Punkte eingegangen werden.
 

5.1.1 Abhängigkeits- und Vertrauensverhältnis

In den meisten Fällen besteht bereits vor dem sexuellen Missbrauch ein Vertrauensverhältnis zwischen Missbraucher und Kind. Der Täter nutzt die emotionale Abhängigkeit und Bedürftigkeit des Kindes für den sexuellen Missbrauch aus.
Neben der wirtschaftlichen Abhängigkeit spielt die emotionale Abhängigkeit des Kindes eine noch größere Rolle.
In manchen Fällen ist es möglich, dass der Täter zunächst Vertrauen zu dem Kind aufbaut, indem er das Kind z.B. bevorzugt, beschenkt, etc.
Beim Inzest, also beim innerfamiliären Missbrauch, ist dies nicht nötig, da hier bereits eine Art Urvertrauen besteht. Dennoch wird das Kind oft auch hier vom Vater bevorzugt und „genießt” dadurch eine Sonderstellung den anderen Familienmitgliedern gegenüber.
Gerade diese vertrauensvolle Beziehung und die Liebe zum Missbraucher macht es dem Kind schwer, die sexuellen Übergriffe zu deuten und letztendlich darüber zu sprechen. Möglicherweise hat das Kind auch Angst, die Liebe des Täters (des Vaters) und vielleicht auch die Sonderstellung, zu verlieren.
Die Ausnutzung des Vertrauensverhältnisses ist ein wichtiger Aspekt in der Arbeit mit traumatisierten Frauen. Klientinnen können Schwierigkeiten haben, Vertrauen zu der Beraterin aufzubauen, was sich negativ auf die Beziehung  zwischen Beraterin und Klientin auswirken kann. Ein so intimes Thema wie Sexualität oder Gefühle, die im Zusammenhang mit der Familie oder der Kindheit „hochkommen” sollten nur mit jemanden besprochen werden, zu dem man eine Beziehung aufbauen kann.
Da die Klientin möglicherweise Vertrauen mit Missbrauch in Verbindung setzt, ist es wichtig, dass die Beraterin sich nicht in die Rolle der Missbraucherin drängen lässt bzw. von der Klientin missbraucht wird. Auch Frau S. scheint Vertrauensprobleme zu haben, da sie der Meinung der Expertin misstraut. Daher sucht sie die Beratungsstelle auf, um Zustimmung von der Beraterin zu bekommen. Sie geht vielleicht davon aus, dass eine Beraterin von einem Verein gegen sexuelle Gewalt auf jeden Fall zu ihr halten würde, was zu einem Missbrauch der Beraterin durch die Klientin führen kann.
Anders gesagt: wenn die Beraterin nun sagen würde, dass die Psychologin falsch läge, da der sexuelle Missbrauch aufgearbeitet werden solle, hat sich die Beraterin durch ihre ideologischen Standpunkt missbrauchen lassen.


5.1.2 Macht des Missbrauchers

Dem Täter geht es oft nicht nur um seine sexuelle Befriedigung, in vielen Fällen möchte er auch seine Bedürfnisse von Macht befriedigen. Dabei missbraucht er nicht nur das Kind, sondern auch seine Autorität und seine Macht.
Gerade kleine Kinder vertrauen darauf, dass das, was der Vater macht, richtig ist. Das Handeln des Täters ist durch diese Stellung gerechtfertigt, wird aber auch durch seine Meinungen nach dem Prinzip „Das ist richtig so” möglicherweise nicht hinterfragt.
Hierbei spielt die sexuelle Aufklärung eine wichtige Rolle. Kinder, die schon früh über Sexualität und sexuellen Missbrauch aufgeklärt werden, können sexuelle Handlungen richtig verstehen und deuten.
In einer Machtposition fällt es dem Missbrauche leichter, Schweigeverbote und eventuell Drohungen auszusprechen, so dass Kinder zum Schweigen gezwungen werden.
Dies ist in manchen Fällen aber nicht nötig, da das Kind von sich aus und aus der Liebe zum Täter schweigt. Wie auch oben schon erwähnt, kann der Täter seine Macht dadurch ausüben, dass er dem Kind eine Sonderstellung zuschreibt. Das Kind möchte diese Sonderstellung vielleicht nicht verlieren oder hat Angst vor den Folgen, wie z.B. dass die Familie auseinander bricht, die Liebe des Täters verliert etc.
Frau S. scheint Probleme mit Autoritäten zu haben. Diesen Eindruck kann man dadurch gewinnen, dass sie sich mit der Abweisung ihrer Psychologin, über den sexuellen Missbrauch zu sprechen, nicht abfindet. Dadurch könnte sie sich eine Beratungsstelle gesucht haben, bei der sie ihrer Meinung nach Zustimmung erwarten kann. Wie schon in der Falldarstellung erwähnt, muss die Beraterin hier darauf achten, dass sie sich nicht von der Klientin missbrauchen lässt.
 


5.1.3 Rollenunklarheit

Wenn ein Erwachsener ein Kind missbraucht, kommt es zur Rollenunklarheit. Wenn z.B. ein Vater seine Tochter missbraucht, macht er sie zur Geliebten und schlüpft aus der Rolle des Vaters und wird zum Geliebten der Tochter. Dadurch kommt es zur Rollenvermischung, die das Kind verwirren kann.
Auch in der Beratung sollten die Rollen klar definiert werden. Es ist wichtig, dass die Beraterin in der Beraterrolle bleibt und die Klientin in der Klientinnenrolle.
Dies kann man dadurch erreichen, dass man klare Grenzen setzt und sich nicht in eine andere Rolle drängen lässt. Klientinnen können dazu neigen, die Beraterin z.B. in die Rolle des Missbrauchers oder auch der Mutter zu drängen. Hierfür sind Kenntnisse aus dem Gebiet der Übertragungen/Gegenübertragungen wichtig (näheres im Kapitel 7.5)
Eine Grenze kann z.B. dadurch gesetzt werden, dass sich Beraterin und Klientin siezen. Dadurch wird der Klientin klar gemacht, dass es sich ausschließlich um eine professionelle Beziehung handelt. Dann fällt es der Klientin schwerer, die Grenze zu einer familienähnlichen bzw. freundschaftlichen Beziehung zu übertreten.
In der Beratung sollte immer klar sein, dass es sich um eine Professionellen-Klienten-Beziehung handelt, denn bei einer klaren Rollenverteilung sind Rollenvermischungen eher schwierig
 


5.1.4 Aggressionen

Körperliche Gewalt ist beim sexuellen Missbrauch eher selten. Dennoch kann man die These aufstellen, dass Aggressionen auch schon dann beginnen, wenn die Grenzen des Kindes nicht eingehalten werden. Grenzüberschreitungen können sich negativ auf die Persönlichkeit des Kindes auswirken und es dadurch schädigen.
Mathias Hirsch zitiert in seinem Buch eine These von Boszormenyi-Nagy und Spark:
„Die Inzestbeziehung zeugt von der Verzweifelung des Erwachsenen, denn psychologisch verhält er sich unüberbietbar destruktiv gegen sein Kind. Aggression in dieser Form ist psychischer Mord - Mord am eigenen Ich wie am Kind. In solchen Fällen wird das Kind nicht als Kind wahrgenommen, sondern als Objekt, das aus Motiven der Abhängigkeit und Vergeltung und aus narzisstischer Ich-Befriedigung benutzt und ausgebeutet wird (S.310)”
Der Mensch verfügt über einen Sexual- und einem Aggressionstrieb. Sie sind nach Psychoanalytikern die grundlegenden Triebkräfte, aus denen sich der Mensch seine Energien holt. Beide Triebe werden zunächst getrennt voneinander gesehen, da sie Gegensätzlichkeiten darstellen (Erhaltung - Zerstörung, Liebe - Hass).
Der Sexualtrieb kann aber auch mit dem Aggressionstrieb verbunden sein. Männer, die Kinder missbrauchen haben in der Regel eine geringere Frustrationstoleranz, d.h. sie können mit negativen Erlebnissen nicht adäquat umgehen und reagieren schneller als andere Menschen mit Aggressionen.
„Es ist nicht die Aggression, die Konflikte auslöst, sondern es sind die Konflikte, die Aggressivität auslösen”
Man kann davon ausgehen, dass Frustrationserlebnisse bei jedem Mensch zu aggressivem Verhalten führen, doch die „Grenze” der Frustrationstoleranz ist bei dem einen höher, bei dem anderen niedriger angesetzt und auch die Aggressionen können verschiedene Formen annehmen. Die einen leben ihre Aggressionen z.B. im Sport aus, andere richten ihre Aggressionen gegen sich selber.
Es gibt unzählige negative Erlebnisse, die zu Frustrationen führen können, wie z.B. mangelnde Anerkennung, längere Arbeitslosigkeit, Eheprobleme usw. wobei auch im Bereich der Sexualität Menschen schnell frustriert sein können und mit Aggressionen reagieren.

Aggressionen müssen aber dabei nicht immer negativ gesehen werden, man kann aggressive Impulse auch positiv einsetzen. Dennoch wird Aggression dann gefährlich, wenn sie unberechenbar ist oder wenn andere, insbesondere schwächere und abhängige Menschen, von stärkeren Personen in Machtpositionen ausgenutzt werden, wie auch beim sexuellen Missbrauch.
Auf der einen Seite sind die Kinder den Aggressionen des Missbrauchers ausgesetzt, auf der anderen Seite haben sie vielleicht selber aggressive Impulse, die sie aufgrund der Machtposition des Missbrauchers nicht gegen ihn richten können und somit anders ausleben müssen (z.B. indem sie sich selbst schädigen)
In der Beratung können die Klientinnen ihre Aggressionen „ausleben” und gegen die Beraterin richten. Es ist wichtig zu wissen, dass diese Aggressionen nicht unbedingt gegen die Beraterin als Person gerichtet sein müssen. Es kann z.B. sein, dass die Klientin ihre Aggressionen gegenüber ihrem Missbraucher auf die Beraterin projiziert oder dass sie sich durch aggressives Verhalten schützen möchte.
Eine Beraterin muss in dieser Situation Aggressionen erkennen und damit umgehen können, um nicht nur sich selber sondern auch die Klientin schützen zu können.
In den Kapiteln 7.5 und 7.6 nehme ich Bezug auf einen Fall, in der in der Beratung eine aggressive Atmosphäre herrschte, mit der die Beraterin jedoch gut umgehen konnte.
 




5.2 Das Erleben der Opfer

Im Folgenden möchte ich einige Aspekte beschreiben, die zu einer Traumatisierung führen können und daher in der Beratung berücksichtigt werden müssen.
Natürlich kann man das Erleben der Opfer nicht „pauschalieren”. Es kommt auf das Alter, Persönlichkeit und Entwicklungsstand der Betroffenen und die Beziehung zum Täter an. Studien zufolge ist sexueller Missbrauch umso traumatisierender, desto enger die Beziehung zum Missbraucher ist und desto länger der Missbrauch besteht.
 


5.2.1 Vertrauen

Wie schon erwähnt besteht zwischen Missbraucher und Kind ein Vertrauensverhältnis. Das Kind fühlt sich in der Beziehung wohl und sicher, ist vielleicht sogar stolz, wenn der Täter ihm besondere Aufmerksamkeit schenkt. Dadurch entwickelt sich oder besteht bereits eine Art Solidarität.
Dieses Vertrauen wird durch den Missbrauch erschüttert und trägt stark zum Trauma bei. Menschen, die sexuellen Missbrauch erfahren haben, können auch im Erwachsenenalter Angst und somit Probleme haben, Menschen zu vertrauen.
Verschiedene Studien belegen, dass je intensiver die Opfer-Täter-Beziehung, desto traumatischer der sexuelle Missbrauch und desto erschütterter, verletzter und verwirrter sind die Kinder.
Auch Frau S. hat wahrscheinlich massive Vertrauensprobleme. Sie vertraut nicht der Meinung der Expertin und möchte sich eine Meinung von einer Beratungsstelle holen, von der sie sich Unterstützung erhofft. Außerdem scheint sie Angst zu haben, eine Beziehung zu einem Psychoanalytiker aufzubauen, denn eine psychoanalytische Therapie bedeutet ein häufigeres Treffen, als alle drei Wochen und es werden sehr intime Dinge besprochen. Daher ist es notwendig, Vertrauen zum Psychotherapeuten aufzubauen.
 


5.2.2 Neugierde und Verunsicherung

Jedes Kind braucht Liebe und Zärtlichkeit. Diese bekommt es vom Missbraucher, wobei „normale” Streicheleinheiten und Zärtlichkeiten klar vom sexuellen Missbrauch abgegrenzt werden müssen. Allerdings kann das Kind, insbesondere wenn es noch sehr jung und unaufgekärt ist, die Grenzüberschreitungen zum sexuellen Missbrauch eventuell nicht erkennen. Vielleicht findet es die sexuellen Handlungen angenehm und spannend, so dass es „mitmacht”.
Später ist es vielleicht verwirrt über die sexuellen Handlungen, die nichts mehr mit der „eigentlichen” Fürsorge zu tun hat. Es kann zu einer Art Ambivalenz zwischen schönen und vielleicht unangenehmen Gefühlen führen.
Auch die Bevorzugung des Kindes durch den Missbraucher kann das Kind schön finden und vielleicht sogar für sich nutzen. In einer Familie mit mehreren Geschwistern beispielsweise hat das Kind, das von seinem Vater missbraucht wird, vor seinen Geschwistern und eventuell auch vor der Mutter eine Sonderstellung.
 


5.2.3 Schuldgefühle und Angst

Wenn das Kind merkt, dass die Vorgänge in der Beziehung zum Täter „falsch” sind, kann es zu Schuldgefühlen kommen. Einigen Autoren zufolge sind die Schuldgefühle besonders gravierend, wenn das Kind sexuelle Erregung und Lust empfunden hat und sich an den sexuellen Handlungen aktiv beteiligt hat.
Insbesondere beim innerfamiliären Missbrauch können die Schuldgefühle der Mutter oder den Geschwistern gegenüber sehr groß sein.
Ist beispielsweise der Vater der Täter und macht die Tochter zu seiner Geliebten, betrügen beide die Mutter. Die Tochter kann Schuldgefühle gegenüber ihrer Mutter haben, da sie sie belogen hat. Auf der anderen Seite kann das Schweigen gegenüber der Mutter auch ein Ausdruck einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung sein (siehe auch Kapitel 5.4)
Das Kind kann auch Angst davor haben, die Familie zu zerstören, denn es hängt ja in gewisser Weise auch an dem Missbraucher.
Schuldgefühle können auch dann entstehen, wenn der Täter seine eigenen Schuldgefühle auf das Kind projiziert oder das Kind dem sexuellen Missbrauch als lebensnotwendigen Abwehrmechanismus (Identifikation mit dem Aggressor) zustimmt.
Gerade Inzestopfer stecken in einem Dilemma: auf der einen Seite partizipieren sie am sexuellen Missbrauch, auf der anderen Seite möchten sie sich davon befreien. Wie schön erwähnt können die größten Schuldgefühle auftreten, wenn das Kind eigene sexuelle Lust empfindet oder aggressive bzw. sexuelle Handlungen an Schwächeren (z.B. jüngeren Kindern) ausübt.
In der Beratung ist es wichtig, die Schuldgefühle im Zusammenhang mit der Täter-Opfer-Dynamik und der Mutter-Kind-Beziehung aufzugreifen. Auch hier sollte die Beraterin möglichst über psychoanalytische Erfahrungen verfügen.
 


5.2.4 Scham, innerer und äußerer Rückzug

Scham ist stark mit Sexualität verbunden und in dieser Form das ganze Leben lang und bei den meisten Menschen präsent. Dies ist die „Scham über die Entblößung der eigenen Geschlechtsorgane, über die sexuellen Aktivitäten und Gefühle.”
Ein Kind, was allmählich merkt was passiert, wird sich für die Erlebnisse schämen. Diese Scham kann dabei auch stark mit den Schuldgefühlen zusammenhängen. Das Kind fühlt sich schuldig für das, was geschehen ist bzw. geschieht.
Manche Kinder haben das Gefühl, man könne ihm ansehen, was passiert ist. Dies kann dazu führen, dass es sich sowohl innerlich (Schweigen) als auch äußerlich („Einzelgänger”) zurückzieht.
 


5.2.5 Schweigen

Die Schamgefühle können ein Grund dafür sein, warum das Kind nichts über den sexuellen Missbrauch erzählt. Aber auch die Geheimnisbindung, der Druck oder Drohungen seitens des Täters kann das Kind zum Schweigen veranlassen. In vielen Fällen ist aber auch die Beziehung zum Täter ein wichtiger Grund, denn es könnte diese, aber auch andere Beziehungen, wie z.B. die zu der Mutter, zerstören.
Insbesondere beim innerfamiliären Missbrauch können diese Ängste stark präsent sein. Das Kind liebt ja auch den Vater und möchte diese Liebe nicht verlieren.
Ein anderer Grund kann die Angst vor den Reaktionen der Umwelt sein. Es könnte Angst davor haben, dass man ihm nicht glaubt und der Lüge bezichtigt.
 


5.2.6 „Ich bin schmutzig”

Kinder, die über längere Zeit sexuell missbraucht worden sind, können ein Gefühl der „Verschmutzung” entwickelt haben. Dies ist dann besonders gefährlich, wenn sich dieses Gefühl im Selbstbild verfestigt. Dann kann es sogar so weit kommen, dass die Frau bzw. der Mann einen Hang zur Selbsterniedrigung entwickelt, insbesondere im Zusammenhang mit der Sexualität.
Das kann dazu führen, dass sich bei sexuell missbrauchten Menschen eine Angst vor Nähe entwickelt. Dies kann in den schlimmsten Fällen zu Mager- oder Esssucht führen, um sexuelle Attraktivität zu verlieren, bis hin zur Selbstaggression wie Verletzung mit Nadeln und Messern, Drogensucht, o.ä.
Ein Mensch, der sexuellen Missbrauch erfahren hat, kann sich aber auch in eine ganz andere Richtung entwickeln und eine aggressive, selbstaggressive und offensive Umgangsweise mit der eigenen Sexualität, wie z.B. Neigung zur Prostitution oder suchtartiges, zwanghaftes Ausleben von sexuellen Phantasien zeigen. (mehr zu den Folgen im Kapitel 6)
 


5.2.7 Realitätsverwirrung

Das Kind kann dadurch verwirrt werden, dass das Gesagte und das Gefühlte nicht miteinander übereinstimmen. Sagt der Missbraucher, dass die sexuellen Kontakte schön seien, das Kind dies aber nicht empfindet, könnte es an seinen Wahrnehmungen zweifeln. Die Gefühle des Kindes werden dann fremdbestimmt. Es kann nicht einschätzen, ob das, was es fühlt richtig oder falsch ist, wem es vertrauen kann und wem nicht. Das kann sich bis ins Erwachsenenalter fortführen.
Diese Zweifel an der eigenen Wahrnehmung können außerdem dazu führen, dass missbrauchte Menschen im Erwachsenenalter nicht genau wissen, ob der sexuelle Missbrauch geschehen ist oder nicht. Dies ist auch insbesondere dann der Fall, wenn Kinder sich Kinder innerlich „tot stellen”, um die Übergriffe „erträglicher” zu machen.
Auch aus diesem Konflikt können sich Krankheiten und psychische Folgen entwickeln, wie z.B. die Psychose oder die Borderline-Persönlichkeitsstörung (siehe auch Kapitel 6.5 und 6.6).
 


5.2.8 Selbstbestimmungsrecht

Dadurch, dass der Missbraucher über das Kind bestimmt, lernt es, dass es kein Recht auf Selbstbestimmung hat. Es lernt, sich dem Willen von Autoritäten zu unterwerfen. Dies betrifft den eigenen Körper, die Intimität und die intimsten Gefühle. Lässt es Reaktionen von Abwehr erkennen, werden diese vom Missbraucher nicht beachtet.
Dieses Gefühl kann dazu beitragen, dass der/die Betroffene nicht nur im sexuellen Bereich immer wieder bereit ist, sich „zur Verfügung zu stellen” und sich missbrauchen zu lassen, den Fremdwillen als Eigenwillen zu erleben. Das Ich wird dadurch nicht selbständig und ist von anderen abhängig.
Im Erwachsenenalter kann es so weit kommen, dass der Mensch sich zwischen zwei Positionen, Sich-ausbeuten-lassen und Sich-Abgrenzen, bewegt. Zum einen kann er weiter Gefahr laufen in Missbrauchssituationen zu geraten, zum anderen kann er ein erhöhtes Kontrollbedürfnis haben. In beiden Fällen ist das Ich von einer anderen Person abhängig. Beim Unterwerfen ist das Ich vom Willen des Anderen abhängig, beim Kontroll- und Machtbedürfnis ist das Ich davon abhängig, als Machtperson anerkannt zu werden.
 




5.3 Familiendynamik

Insbesondere beim Inzest sollte der sexuelle Missbrauch neben der Täter-Opfer-Beziehung und auch der Mutter-Kind-Beziehung -auf die ich im nächsten Kapitel kommen werde- immer im Zusammenhang mit der Familie und ihren Dynamiken gesehen werden.
Betonen möchte ich hier, dass die Beschreibungen natürlich nicht auf alle Inzestfamilien zutreffen. Es geht hier um mögliche bestehende Dynamiken, die -durch verschiedene Untersuchungen und Statistiken belegt- gehäuft in Inzestfamilien vorkommen.
In fast jeder Literatur wird immer wieder von einer Familie gesprochen, die nach außen hin einen unauffälligen und durchschnittlichen Eindruck macht. Man kann also von außen keine besonderen Merkmale feststellen.
Auch eine bestimmte Schichtzugehörigkeit kann nicht festgestellt werden. Es wird aber von einer „sozialen Isolation” gesprochen, wobei die Familie eine „paranoide Festung” und „umgeben von Feinden” ist.  Das heißt, die Familie verfügt über wenig Kontakte nach außen (Freunde, Nachbarn, etc.) Dabei kommt die soziale Isolation nicht erst durch den Inzest zustande, sondern durch die Unfähigkeit der Eltern, soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten. Innerhalb des Familiensystems werden alle Bedürfnisse der Familienmitglieder befriedigt.
Es kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einem gestörten Familiensystem ausgegangen werden, was zum einen den Beginn des sexuellen Missbrauchs begünstigen und im Weiteren dazu beitragen kann, dass der sexuelle Missbrauch nicht aufgedeckt wird.
Hier gibt bestimmte „Risikofaktoren” die den sexuellen Missbrauch „unterstützen” können.
Es sollte auf der einen Seite auf die individuelle Ebene geschaut werden, also auf die Persönlichkeiten und die Lebensgeschichte der Mütter und Väter, wobei auch hier kein „Raster” erstellt werden und auf jede Inzestfamilie angewendet werden kann. Dieses Thema wird in den nächsten beiden Kapiteln („Die Mutter-Kind-Beziehung” und „Der Täter”) behandelt.
Es gibt verschiedene Ansätze in der Familiendynamik, die die „Ursache” einer Inzestdynamik erklären sollen.
Aus feministischer Sicht sind dies die patriarchalen Strukturen, die dem Mann ermöglichen, seine Macht zugunsten seiner eigenen Bedürfnisse zu missbrauchen. Der Vater fühlt sich nach diesen Überlegungen dazu berechtigt, über seine Frau und seine Kinder zu bestimmen. Aufgrund des Gesellschaftswandels, in der die Frau autonomer und selbstbewusster geworden ist, ist dieser Standpunkt meiner Ansicht nach nicht mehr unbedingt vertretbar.
Wie schon im Kapitel 3 ausführlich besprochen, haben auch Frauen die Möglichkeit, innerhalb der Familie Macht auszuüben. Sie haben die so genannte „Versorgungsmacht”,  das heißt eine Frau in der Familie ist für die emotionale „Versorgung” zuständig, wobei die „wirtschaftliche Versorgung” meistens beim Mann liegt. Sie ist der Mensch in der Familie, der Halt und Unterstützung gibt und das nicht nur, wenn konkret Probleme vorliegen. In dieser Hinsicht kann sie Entscheidungen treffen und die Familienmitglieder in ihrer Entscheidung mit am stärksten beeinflussen. In der Umgangssprache würde man sagen, dass sie „die Hosen anhat”.
Die Macht innerhalb der Familie liegt nicht mehr (allein) beim Mann, er ist mindestens genauso von der Frau abhängig wie die Frau vom ihm. Ein patriarchales System gibt es in unserer Kultur nicht mehr bzw. nur noch in Einzelfällen. Frauen sind heute selbstbewusster und selbständiger, so dass sie ihr Leben eigenverantwortlich gestalten können. Frauen sind heute nicht mehr gezwungen, ein patriarchales System aufrechtzuerhalten.
Ein Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und Häufigkeit von sexuellem Missbrauch wird heute bestritten. Die gehäufte Anzahl von Missbrauchsfällen in unteren sozialen Schichten kommt wahrscheinlich dadurch zustande, dass diese Familien schon von vornhinein mit dem Jugendamt in Kontakt stehen. Allerdings vertreten einige Autoren den Standpunkt, dass durch die schwierigen sozialen Probleme ein höheres Inzestrisiko besteht.
Nach Joraschky, der sich wiederum auch auf andere Autoren bezieht, gibt es verschiedene Familientypen beim sexuellen Missbrauch. Die meisten Familien (40-80%) werden dabei zu den „endogenen Familien” gezählt. Dies sind „oberflächlich unauffällige, gut angepasste Familien, die jedoch keine echten Außenkontakte haben. Die Familien werden bei genauer Betrachtung durch einen gespannten Zusammenhalt mit Konfliktvermeidung, Grenzstörungen, Verlassenheits- und Desintegrationsängsten charakterisiert. Grundbedürfnisse nach seelischem und körperlichen Wohlergehen und Wärme werden sexualisiert.”

Im Folgenden werden vier verschiedene Klassen von Inzestfamilien aufgeführt, wobei es sich um grobe Aufteilungen handelt. Es ist auch möglich, dass Familien Verhaltensweisen aus mehreren Kategorien zeigen.
Zum einen gibt es den wahrscheinlich häufigsten Typ in Inzestfamilien, die von Joraschky (und dabei bezieht er sich auf Larson und Maddock, 1986) „Zuneigungs-Missbrauch” genannt wird. Diese Familie zeichnet sich durch Fürsorge und Zuneigungsaustausch aus, wobei es seltener oder gar nicht zu körperlicher Gewalt kommt. Die Väter sind emotional bedürftig. Nach Joraschky hat diese Familie mit einer Therapie die besten Chancen auf Besserung und auf ein weiteres Zusammenleben.
Beim „Erotik-Missbrauch” wird ein Großteil des Verhaltens sexualisiert, die Eltern sehen Sexualität innerhalb der Familie unter Umständen als ihr Recht an. Misshandlungen kommen hier sehr selten vor. Auch hier gibt es günstige Prognosen, wenn eine Therapie durchgeführt wird.
Der „Macht-Missbrauch” ist gekennzeichnet durch einen Inzest, der einen feindseligen Zweck hat und wo Fragen der Macht herrschen. Oft kommt es auch zu körperlichen Misshandlungen. So können die sexuellen Handlungen zum Teil sogar als strafendes Mittel, das der gewalttätige Vater einsetzt, oder zum Zweck der Erniedrigung angesehen werden. Eine Therapie verspricht hier nur mäßigen Erfolg, die meisten Familien lösen sich währenddessen auf.
Eine eher ungünstige Prognose hat der „Gewalt-Missbrauch”, kommt aber auch seltener vor. Der sexuelle Übergriff gleicht einer Vergewaltigung, wobei es auch zu physischen Gewaltakten kommt und zu körperlichen Schäden beim Kind führen kann. Die Väter zeigen psychopathologische Auffälligkeiten.
Daneben werden verschiedene Rollenmuster aufgeführt. Zum einen gibt es die Struktur, in der der Vater eine dominante und mächtige Person ist. Er macht die Mutter abhängig, indem er sie wie ein Kind behandelt. Hier kann die Mutter unbewusst dem sexuellen Missbrauch zustimmen, damit sie nicht selber die Rolle der Ehefrau übernehmen muss. Hier ist die Gefahr des sexuellen Missbrauchs umso größer, desto zuneigungsbedürftiger der Vater ist.
In einer anderen Struktur übernimmt die Mutter die dominante Rolle und ist die Verantwortliche für bestimmte Entscheidungen in der Familie. Dabei behandelt sie ihn wie ein Kind, so dass der Vater sich in der Rolle eines Jugendlichen fühlen kann. Die sexuellen Übergriffe sehen aus wie die sexuellen Spielereien unter Geschwistern, wobei es hier dazu kommen kann, dass der Vater auch seine Aggressionen und seinen Zorn auslebt.  Dadurch dass der Vater beide Rollen erfüllt, kommt es zu widersprüchlichen Verhaltensweisen.
Als weitere Struktur führt Joraschky die Chaotische Struktur auf, bei der sich die Familienmitglieder auf einer Generationsebene bewegen. Das heißt, dass Verantwortungen und Führungen häufiger wechseln. Der Vater sieht sich häufig nicht als Vater seiner Tochter. Hier kann es auch gehäuft zu sexuellem Missbrauch zwischen Geschwistern kommen.
Bei einer Familie mit entfremdetem Vater hat der oft fordernde und aggressive Vater keine richtige emotionale Beziehung zu seiner Familie/seinen Kindern.
Auch in Stieffamilien kommen all diese Strukturen vor, wobei Untersuchungen ergaben, dass in Stieffamilien das Inzestrisiko fünfmal größer ist. Demnach gibt es verschiedene Gründe für die größere Wahrscheinlichkeit sexueller Übergriffe, wie z.B. die geringere emotionale Bindung an das Kind oder dass der Missbraucher aufgrund der Erwerbstätigkeit der Mutter häufiger die Gelegenheit zu sexuellen Übergriffen hat.
Weitere empirische Untersuchungen haben die Dynamiken in der Familie betrachtet.
Dabei wurde herausgefunden, dass in den Familien häufig die Bedürfnisse nach seelischem und leiblichem Wohl nicht ausreichend befriedigt werden. Körperlicher Kontakt wird dabei sexualisiert.
Ein Risikofaktor, der auch in inzestuösen Familien vorkommt ist nach Untersuchungen (Finkelhor und Hotaling, 1984) die schlechte Beziehung zwischen den Eltern.
Es gibt eine „Tendenz zur Spaltung in der Partnerschaft”, d.h. die Ehepartner haben z.B. keine emotionale Bindung, sie unterstützen sich nicht gegenseitig und haben keine gemeinsame Sexualität mehr. Es kommt dann auch vermehrt zu Auseinandersetzungen.
Mit einer gestörten Partnerschaft der Eltern kann man vielleicht auch das Problem begründen, dass die Mutter eventuell die Augen vor dem sexuellen Missbrauch verschließt bzw. nicht einschreitet. Vielleicht ist sie (unbewusst) dankbar, dass sie selber dadurch keine oder nur wenige sexuelle Kontakte mit ihrem Mann hat.
Dies ist auch ganz klar eine Distanzierung der Mutter von der missbrauchten Tochter und somit auch vom Vater. Dabei ist charakteristisch, dass sich die Mutter zwar aus der Verantwortung nehmen möchte und sich von Mann und Tochter zurückzieht, sich aber von ihrem Mann nicht trennt. Es wird davon ausgegangen, dass die Partner in der Kindheit schwerwiegende Trennungserlebnisse erfahren haben und daher eine Trennung um jeden Preis verhindern möchten. Dies bedeutet eine starke Abhängigkeit von dem Partner.
Eine Abwendung der Mutter vom Vater kann zu einer stärkeren Hinwendung der Tochter zum Vater führen, was wiederum zu einem engen Bündnis von Tochter und Vater (eventuell gegen die Mutter) führen kann. Dabei kann es zu sexuellen Kontakten kommen.
Ein anderer Risikofaktor ist die schlechte Beziehung des Kindes zu einem der beiden Elternteile. Dies kann auch ein Grund dafür sein, warum sich das Kind nicht mit seinen Problemen der Mutter anvertraut.
Es wurde in einer Studie von Draijer (aufgeführt von Joraschky) nachgewiesen, dass der sexuelle Missbrauch nie isoliert auftritt, sondern immer in Kombination mit anderen Faktoren, wie körperliche Misshandlung, Vernachlässigung oder Lieblosigkeit in Verbindung mit strikter Kontrolle.
Demnach sind die Eltern auch häufiger krank, emotional labil, depressiv und/oder alkohol- oder tranquillizerabhängig.
Neben dem sexuellen Missbrauch tragen auch diese Faktoren, sowie die mangelnde oder fehlende liebevolle Fürsorge durch die Eltern zu späteren Störungen des Kindes bei.
Ein wichtiger Aspekt, der in diesem Zusammenhang zu nennen ist, sind die Störungen in der Einhaltung der Grenzen. Nach Joraschky gibt es zum einen die Generationsgrenzenstörung, d.h. innerhalb der Familie sind die Rollen, die sich aus der Zugehörigkeit der Generation ergeben, nicht klar voneinander abgegrenzt. So gibt es z.B. Kinder, die einen Eltern- oder Partnerersatz darstellen, was zu einer Überforderung der Kinder führen kann. Das Kind nimmt schon früh eine Erwachsenenrolle ein, schon dadurch bedingt, dass es eine sexuelle Beziehung zu einem Erwachsenen hat. In manchen Fällen übernimmt es die Mutterrolle nicht nur indem es eine sexuelle Beziehung zum Vater hat, sondern auch indem es die Führung des Haushaltes oder die Versorgung der Geschwister übernimmt. Ein Kind, das sich mit dieser Rolle identifiziert wird bald merken, dass es die Rolle nicht erfüllen kann, was wiederum zu Schuldgefühlen führen kann.
Es können sich inzestuöse Strukturen insbesondere dann entwickeln, wenn die Eltern eine Eltern-Kind-Beziehung einer Partnerschaft vorziehen. Dabei wird das Kind idealisiert und zu einem „nie erreichbaren Liebesobjekt stilisiert”. Dabei schwankt das Kind zwischen „Grandiosität”, also das Gefühl, der bessere Partner zu sein und der Angst vor Verlust dieses Status („Depression”), was zu Ich-Störungen führen kann. Dies kann insbesondere dann noch problematischer sein, wenn beide Elternteile um das Kind konkurrieren.
Eine weitere klare Grenzverletzung liegt hier im Bereich der Sexualität. Joraschky nennt dies „Geschlechtsgrenzenstörungen”. Dabei werden Intimitäten, wie gemeinsames Baden oder Schlafen, lange über die Latenzzeit hinaus ausgetauscht.
Körperkontakt wird entweder mit Nichteinhalten der altersadäquaten Grenzen betrieben oder plötzlich abgebrochen, was das Kind verunsichern kann. Es schwankt hier zwischen den der Angst vor zu großer Nähe (Inzest) und zu großer Distanz (Trennung), was das Kind stark verunsichern kann. Sexualisiertes Verhalten findet in erotischer Atmosphäre, in Form von Anspielungen, Andeutungen, diskreten Distanzminderungen und Grenzüberschreitungen statt.
Dabei gibt es auch Familien, in denen kein offener Inzest vorliegt, bei denen aber die Kommunikation sexualisiert wird und die Inzestwünsche abgewehrt werden, indem das Kind zurückgewiesen wird.
Typisch für Missbrauchsfamilien ist die Gleichzeitigkeit von Verleugnung und Aufrechterhaltung des sexuellen Missbrauchs. Bedürfnisse und verletzte Selbstwertgefühle werden auf das Kind projiziert und gleichzeitig ein Ausgleich durch das Kind erwartet. Dies kann insbesondere bei Stresssituationen oder Frustrationserlebnissen der Eltern ein erhöhtes Ausmaß haben. Die Eltern sind in erhöhtem Maße vom Kind abhängig, was unter Umständen keine eigenständige Identitätsentwicklung des Kindes zulässt.
Das wird sowohl für die Eltern als auch für das Kind gerade dann problematisch, wenn das Kind versucht eigenständiger zu werden und sich von den Eltern abzugrenzen. Denn wie gerade schon erwähnt, haben die Eltern große Trennungs- und Verlassenheitsängste und versuchen, das bestehende Familiensystem  zu erhalten.
Auch Hirsch  sieht ein Merkmal der Inzestfamilien in der Trennungsangst. Er vertritt die Meinung, dass Inzest spannungsreduziernd ist und die Familie stabilisiert. Diese Trennungsängste können sowohl bei den Opfern als auch bei den Eltern präsent sein. Damit kann man vielleicht auch die Tatsache erklären, dass der Inzest so lange geheim gehalten wird. Wird der Inzest aufgedeckt, können die Familienmitglieder in schwere Krisen stürzen. So führt Hirsch einige Autoren auf, die mit Inzesttätern, die von ihren Töchtern getrennt worden waren, Psychosen, Selbstmorde und plötzliche Todesfälle in Zusammenhang brachten. Auch bei den Müttern wurden Selbstmorde und psychische oder psychosomatische Krisen nach dem Auszug der Tochter geschildert.
Für die Beratung von sexuell missbrauchten Frauen und Männern, insbesondere, wenn sie Inzest erfahren haben, ist es wichtig, Kenntnisse über mögliche Dysfunktionen innerhalb der Familie zu haben. Natürlich muss eine Beraterin immer den Einzelfall sehen und darf die Klientin nicht in eine „dysfunktionale” Familie pressen.
Dennoch muss immer beachtet werden, dass es sich gerade beim Inzest häufig um gestörte Familiensysteme handelt, die auch oder vielleicht sogar insbesondere zum Trauma beitragen.
Die gestörten Beziehungen zu Vater und Mutter sollten daher aufgearbeitet werden, wenn es für die Klientin hilfreich ist.
 




5.4 Die Beziehung zur Mutter

In der Literatur wird die Mutter auf der einen Seite (insbesondere in der feministischen Literatur) als unschuldige Frau beschrieben, die den sexuellen Missbrauch nicht hätte erkennen können, auch wenn sie Veränderung an ihrem Kind bemerkt hat. Auf der anderen Seite werden sie selbst als narzisstisch gestört und gefühlskalt  beschrieben, so dass sie nur begrenzt in der Lage sind, ihre Rolle als Mutter zu erfüllen.
Inzestopfer stellen sich die Frage, ob die Mutter nicht doch vom sexuellen Missbrauch gewusst, ihn vielleicht (unbewusst) unterstützt hat und warum sie dem Kind nicht geholfen hat.
Für Außenstehende wirkt es sehr unwahrscheinlich, dass eine Mutter von dem jahrelangen Missbrauch ihres Kindes nichts mitbekommt. Warum erzählt das Kind nicht davon? Will es sich vielleicht an der Mutter „rächen”  oder kann es der Mutter nicht alles erzählen? Und wenn es doch Andeutungen macht, warum geht die Mutter unter Umständen nicht darauf ein? Ist die Mutter vielleicht unbewusst mit dem sexuellen Missbrauch einverstanden?
Wichtig bei diesen Überlegungen ist, dass es hierbei nicht um eine Schuldzuweisung geht. Eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung ist ein wichtiger Aspekt in der Thematik des sexuellen Missbrauchs und kann außerdem mit zum Trauma beitragen.
Jedes Kind ist vom Beginn seiner Entwicklungsphase an von der Mutter (bzw. von seiner ersten Bezugsperson) abhängig. Es braucht eine stabile Beziehung, um ein gesundes Selbst entwickeln zu können und eine Basis, auf der es vertrauensvolle Beziehungen aufbauen kann. Dafür ist es von einer konstanten Beziehung zur Mutter und deren „positiven Spiegelung” abhängig.
Eine gestörte Mutter-Tochter-Beziehung kann den Inzest „unterstützen”. Schneider und Dulz gehen davon aus, dass ein Kind, das keine ausreichende Liebe von der Mutter erhält sich automatisch dem sexuell missbrauchenden Vater zuwendet. Das Kind sucht dabei nicht sexuelle Befriedigung sondern „Bemutterung” durch den Vater. Eine gesunde Vater-Kind-Beziehung könnte dies auch kompensieren, doch beim sexuellen Missbrauch versagt der Vater nicht nur hier, sondern auch bei der Erfüllung seiner Vaterrolle. Dies hat zur Folge, dass das Kind in der Entwicklung seines Selbst gestört werden kann.
Die Geschlechtsidentität kann so weit beeinträchtigt werden, dass die Tochter später das Gefühl hat, Frauen seien in der Sexualität ausbeutbar und minderwertig.
Das kann zu einer masochistischen Unterwerfungshaltung, zu sadistisch-rachenehmenden Verhalten oder auch zur totalen sexuellen Abstinenz führen.
Die Mutter-Kind-Beziehung kann schon vorher, aber auch erst durch den Missbrauch gestört werden. Kinder, deren Hilferufe und Andeutungen gegenüber der Mutter nicht richtig beachtet werden, können schnell den Eindruck gewinnen, der Mutter seien die Vorfälle gleichgültig. Einerseits kann es ein, dass die Mutter zunächst andere Gründe für das veränderte Verhalten ihres Kindes sucht, wie z.B. Streit mit Freunden, Umzug, etc. Sexueller Missbrauch wird aufgrund der unangenehmen Problematik zunächst nicht beachtet. Erfährt dann die Mutter davon, kann es große Schuldgefühle und Gefühle des Versagens auslösen. Hirsch beruft sich auf verschiedene Studien (Gardiner-Sirtl, Kempe, Kaufman et al.), die besagen, dass Töchter dem Vater eher verzeihen als der Mutter, da sie sie nicht beschützt und im Stich gelassen hat.
Auf der anderen Seite möchte oder kann die Mutter den sexuellen Missbrauch nicht sehen. Vielleicht kann sie aus Angst, Schock oder aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte nicht darauf eingehen.
Im Weiteren können Rivalitätsgefühle bei der Mutter ausgelöst werden. Wie schon in den vorigen Kapiteln erwähnt, wird beim Inzest die Tochter zur Geliebten des Vaters. Das Gefühl, dass sie sich ihren Mann mit einer anderen Frau geteilt hat, kann schon sehr kränkend sein, doch wenn die Geliebte noch die Tochter ist, können Mütter in große Krisen fallen.
Manche Psychoanalytiker vertreten den Standpunkt, dass das Kind sich an der Mutter für die mangelnde Zuwendung „rächen” wollen und daher den sexuellen Missbrauch verschweigt und unbewusst zustimmt. Es kann sich hierbei um ein Bündnis mit dem Vater gegen die Mutter handeln.
Bei der Arbeit mit Müttern sollte also nicht nur an den Gefühlen gearbeitet werden, sondern auch an der Beziehung zu der Tochter.
 




5.5 Die Täter

Sexuell missbrauchte Menschen und auch Professionelle, die mit diesen Menschen arbeiten, stellen sich wahrscheinlich die Frage, warum Männer so etwas tun.
Die Öffentlichkeit interessieren im Allgemeinen die Gründe nicht. Täter werden aufgrund der für die Allgemeinbevölkerung abscheulichen und verachtenswerten Tat in die Schublade „widerliches Ungeheuer” gesteckt, was am besten sein Leben lang hinter Gittern gehalten werden muss oder vielleicht sogar kein Recht hat zu leben.
Die Justiz und die Forensik stehen bei diesem Thema mit im Mittelpunkt. Auf der einen Seite werden höhere Strafen gefordert und der Ruf nach einer Forensik, die Sexualstraftäter nicht mehr unter „die Menschen” lässt, wird immer lauter.
Dabei muss ein „Wegschließen” der Täter nicht immer im Interesse des Opfers sein, insbesondere wenn es sich um ein Verwandtschaftsverhältnis handelt und das Kind dem Täter trotz alledem loyale Gefühle entgegenbringt.
Sozialarbeiter stehen hier oft zwischen den Fronten. Auf der einen Seite finden auch sie -als Mensch- einen Umgang mit Sexualstraftätern vielleicht undenkbar, doch in ihrer professionellen Rollen müssen sie sich mit diesem Thema auseinandersetzen. In jedem Jugendamt, Erziehungsberatungsstelle oder Kinderheim können Sozialarbeiter in Kontakt mit Missbrauchern stehen und müssen -je nachdem welche Position sie in demjenigen Berufsfeld einnehmen müssen- Objektivität wahren.
Eine Auseinandersetzung mit den Tätern soll die Missbrauchstaten nicht entschuldigen, sondern dazu beitragen, die Psyche und das Verhalten dieser Menschen zu verstehen ohne ihnen Verständnis entgegenbringen zu müssen. Es sollte jedem/jeder Sozialarbeiter/in selber überlassen werden, ob er/sie mit Sexualstraftätern arbeiten möchte oder nicht. Ein erzwungener Kontakt wäre beiden nicht dienlich, da eine Arbeit auf vertrauensvoller Basis nicht möglich wäre.
Verschiedene Faktoren können dazu führen, dass ein Mensch Kinder sexuell missbraucht. Dabei geht es um verschiedene Faktoren, die zusammen sexuelle Handlungen begünstigen können. Dass heißt, diese Faktoren bedingen sich unter Umständen gegenseitig und sollten nicht isoliert betrachtet werden.
Es gibt verschiedene Ansätze, um das Verhalten der Missbrauchstäter zu erklären.
Zum einen gibt es den feministischen Standpunkt, wonach das Problem in den gesellschaftlichen Ursachen gesehen wird. Dabei geht es um die unterschiedliche Verteilung von Macht zwischen Männern und Frauen.
Demnach besteht ein Patriarchat, in dem Männer das Recht haben, über Frauen und Kinder zu bestimmen und zu verfügen. Wie schon erwähnt, ist meiner Meinung nach dieser Standpunkt aufgrund der veränderten Rolle der Frau nicht mehr vertretbar.
Abgeleitet davon gehen einige Autoren davon aus, dass die Männer einen gemeinsamen Grundkonflikt haben. Dieser liegt in dem verinnerlichten klassischen Männerbild, bei dem der Mann überlegen, stark und unabhängig ist. Eine autoritäre Erziehung, dass dem Jungen ein rigides Männerbild auferlegt trägt dazu bei, dass der Junge sich nicht als eigenständiges Individuum entwickeln konnte, sondern gelernt hat eine bestimmte Rolle -und zwar die männliche- einzunehmen. Dazu gehört auch die Kontrolle über Emotionen und Ausdruck von Stärke. Aggressive Gefühle sind „erlaubt”.
Diese Männer sehen Frauen als Sexualobjekte und schon in der Pubertät interessieren sie Mädchen „weder sozial noch persönlich, sondern funktional, als Vorrichtung zur Abfuhr für den allzeit lauernden Entladungsdruck des Mannes” (hier ist die männliche Sexualität gemeint).  Dieser Meinung nach werden Kinder und Frauen nicht nur von Männern dominiert, sondern auch nicht als Individuen gesehen. Er braucht die Rücksichtslosigkeit, um sie für seine Zwecke beherrschen zu können.
Wie schon gesagt glaube ich, dass dieser Standpunkt nicht mehr unbedingt, sondern eher in Einzelfällen vertreten werden kann.
Der Standpunkt stimmt auch nicht mit den Untersuchungen, die Peter Joraschky  aufführt, überein. Dieser tyrannische, dominante und herrschsüchtige Mann kommt in 15% der Inzestfamilien vor.

Der größte Teil der Täter, und das sind 85%, werden als unauffällig und eher introvertiert, schüchtern, passiv, emotional und sozial abhängig beschrieben. Dabei scheint er große Probleme in der Beziehung zu erwachsenen Frauen zu haben und sucht in dem Verhältnis zu seiner Tochter eine Beziehung, der er sich gewachsen fühlt.
Sie haben keine psychopathologischen Symptome, selten Psychosen oder schwere Persönlichkeitsstörungen mit einem Mangel an Impulsbeherrschung, Bedürfnis nach unmittelbarer Befriedigung und fehlendes Schuldbewusstsein, scheinen also überwiegend „normal” zu sein.
Allerdings haben Einige Probleme, ihre Aggressionen zu beherrschen und Stress zu ertragen.
Beide „Tätertypen” haben ein labiles Selbstbewusstsein und narzisstische Defizite. Sie können sich beide emotional schwer in die Lage der Opfer versetzen.
Neben der Persönlichkeit und den Konflikten des Täters sollte auch die eigene Lebensgeschichte berücksichtigt werden.
So haben Untersuchungen gezeigt, dass manche Täter auch Betroffene von sexuellen Übergriffen waren, wobei die Übertragungsrate von Generation zu Generation auf 30% geschätzt wird.
In der Kindheit haben sie häufig eine Angst vorm Verlassenwerden gespürt, wahrscheinlich ausgelöst durch Trennungen, Verluste oder Zurückweisung durch die Eltern. Manchmal haben sie auch gewaltsame Übergriffe und Vernachlässigung erfahren, was zu einem schwachen Selbstbewusstsein und zu narzisstischen Störungen geführt haben kann. Dadurch sind auch weiterhin die Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen zu erklären.
In den Familien der Täter gab es oft ein gestörtes Verhältnis zu den Vätern, die als gewalttätig und gefürchtet beschrieben werden oder die die Familie früh verlassen haben.
Man kann also sehen, dass die auch die Täter eine psychotherapeutische Behandlung brauchen, um selber mit ihrer Lebensgeschichte fertig zu werden und um an den Defiziten der eigenen Persönlichkeit zu arbeiten. Doch leider sehen sich die Täter meistens nicht als bedürftig.
Bei der Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs ist typisch, dass die Täter den sexuellen Missbrauch leugnen oder bagatellisieren, die volle Verantwortung nicht auf sich nehmen möchten und sich als Opfer der Situation sehen. Ein Grund dafür ist natürlich die Strafverfolgung, die den Tätern drohen würde.
So sehen sie sich als Opfer der Verführungen der Tochter oder schieben die sexuellen Übergriffe auf die Frigidität der Mutter. Dadurch kann es zur Umverteilung der Schuldgefühle kommen.
Man kann sich natürlich fragen, was die Auseinandersetzung mit den Tätern überhaupt mit dem Umgang mit den Betroffenen zu tun hat. Für mich ist diese Auseinandersetzung wichtig, um den sexuellen Missbrauch in einen größeren Zusammenhang zu bringen und ihn dadurch besser verstehen zu können.
Dieses Verstehen brauche ich, um Klientinnen professionell beraten zu können, da ggf. auch die Betroffenen die Dynamiken, die hinter dem sexuellen Missbrauch stecken, verstehen und im Anschluss daran auch verarbeiten möchten. Dazu gehört auch das Verstehen des Täters und seinen Handlungen („Warum hat er das getan”)
Die Arbeit an der Täter-Opfer-Beziehung, insbesondere wenn es sich um einen Inzest handelt wird außerdem dadurch vereinfacht.
 




6. Mögliche Erkrankungen und psychische Folgen für die Frau

Sexueller Missbrauch ist ein Erlebnis, bei dem der Mensch sowohl im seelischen als auch im körperlichen Bereich massiven Verletzungen und Erschütterungen ausgesetzt ist.
Die Art der Folgen, sowie deren Ausmaß ist von verschiedenen Faktoren abhängig, wie z.B. das Alter und die Persönlichkeit des Kindes oder die Dauer und Intensität des sexuellen Missbrauchs. Es ist hier wichtig zu betonen, dass nicht jedes sexuell missbrauchte Kind später an den gleich aufgeführten Folgen leben muss, bzw. dass nicht jeder Mensch, der an den unten erklärten Symptomen leidet zwangsläufig sexuell missbraucht worden ist.
Des Weiteren sind bei den Folgen nicht alleine die sexuellen Erlebnisse des Kindes zu beachten. Insbesondere beim Inzest kommen häufig auch gestörte Familienverhältnisse hinzu, die die Entwicklung des Kindes stören können.
Negative und traumatisierende Erlebnisse im Leben eines Kindes können immer zu Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung führen. Besonders wenn es sich wiederholt um körperliche, seelische Misshandlung oder sexuellen Missbrauch handelt, können beim Kind schwerwiegende Folgen verursacht werden, mit denen es auch noch im Erwachsenenalter leben muss.
Kinder entwickeln bestimmte Verhaltensweisen und Abwehrmechanismen, die den sexuellen Missbrauch „erträglicher” machen sollen. Diese Verhaltensweisen können sich in die Persönlichkeit des Kindes einprägen und das Leben der Männer und Frauen bestimmen, so dass sie auch nach Beendigung des sexuellen Missbrauchs mit den Folgen leben müssen.
Allerdings muss dabei erwähnt werden, dass die Männer und Frauen keine „hoffnungslosen Fälle” sind. Eine Beratung und Therapie kann den Opfern dabei helfen, an den Folgen zu arbeiten, um letztendlich damit leben zu können.
Ein Großteil der Folgen liegt im Bereich der Sexualität, im psychischen (z.B. Psychosen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen) und im psycho-somatischen  (z.B. Magenbeschwerden, Asthma, Essstörungen) Bereich, sowie im autoaggressivem Verhalten (z.B. Suizid, Drogenmissbrauch).
Im Folgenden möchte ich einige Aspekte davon aufgreifen.
 


6.1 Posttraumatische Belastungsstörungen

Die Posttraumatische Belastungsstörung, auch Posttraumatisches Stresssyndrom genannt, hängt stark mit einem erlebten Trauma zusammen. Hier stehen insbesondere Ängste und depressive Verstimmungen im Vordergrund. Die Erlebnisse werden „wieder belebt”, kommen also plötzlich wieder ins Bewusstsein.
Diese Erinnerungen kommen in stark belastenden Träumen (Alpträumen, aber auch Angst machende Tagträume) wieder hoch, aber auch durch Halluzinationen oder Déjà-vu-Erlebnissen. Sie werden insbesondere durch Situationen ausgelöst, die an den sexuellen Missbrauch erinnern, wie z.B. bestimmte Szenen in Filmen oder in Büchern.
Weitere Symptome sind Angstzustände, Schlaflosigkeit, Depressionen, Wut Schuldgefühle, Misstrauen, emotionaler Rückzug oder Gefühle der Wertlosigkeit.
 


6.2 Sexualität

Die Traumatisierung durch den sexuellen Missbrauch betrifft häufig die eigene Sexualität, wobei sexuelle Störungen verschiedene Formen haben können. Dazu gehören sexuelle Funktionsstörungen (z.B. Erregung, Orgasmus, etc.), sexuelles Verhalten (z.B. Promiskuität) und sexuelle Neigungen (z.B. Pädophilie, Masochismus, etc).
 


6.2.1 Sexuelle Funktionsstörungen

Sexualität kann mit starken Ängsten verbunden sein. Dies sind zum einen individuelle Ängste und zum anderen Partnerbezogene Ängste, wie z.B. Ängste vor Gewalt, Kontrollverlust und Selbstaufgabe.  Wenn missbrauchte Frauen unter sexuellen Funktionsstörungen leiden, kann das z.B. mit dem Ekel vor Geschlechtsorganen oder Angst vor sexueller Gewalt zusammenhängen.
Als Folge davon kann die Frau Probleme beim Geschlechtsverkehr haben, wie z.B. Erregungs- oder Orgasmusstörungen.
 


6.2.2 Sexuelles Verhalten

Frauen, die sexuellen Missbrauch erfahren haben lernen, dass Sexualität mit Unterwerfung zusammenhängt. Der Missbraucher hat die Grenzen des Kindes nicht beachtet und somit das Selbst und die Identität des Kindes angegriffen. Dadurch besteht die Gefahr, dass sich diese Menschen erneut in Beziehungen begeben, in denen sie (sexuell) missbraucht werden. Einige Studien belegen, dass sexuell missbrauchte Frauen häufiger in der Ehe, von Bekannten oder Fremden vergewaltigt worden sind, als nicht missbrauchte Frauen. Dies kann aber auch damit zusammenhängen, dass sich missbrauchte Menschen nicht ausreichend wehren können, oder vielleicht eine (auch unbewusste) „verführerische Ausstrahlung” haben, die sie als Kind erworben haben könnten.
Dazu kommen Wut, Ekel und Selbstzweifel, was eine Frau daran hindern kann, ihre Sexualität zu genießen und nach den eigenen Wünschen auszuleben. Auch der Bezug zum eigenen Körper kann gestört sein. Es gibt Kinder, die gelernt haben, ihre Gefühle und ihren Körper voneinander zu trennen, um zu überleben. Es ist wichtig, dass an dieser Abspaltung gearbeitet wird, denn dadurch wird die Frau betäubt und empfindet nichts oder nur wenig in einer erotischen Beziehung.
Neben der sexuellen Abstinenz kann sich eine Frau aber auch genau umgekehrt verhalten. In diesen Fällen haben Frauen häufig Geschlechtsverkehr, eventuell mit häufig wechselnden Partnern (so genannte Promiskuität). Dies kommt insbesondere dann vor, wenn Kinder gelernt haben, dass sie Zuwendung besonders in Verbindung mit sexuellen Handlungen bekommen. Auffälliges sexuelles Verhalten, sexualisierte Kontaktaufnahme zu Erwachsenen oder ungehemmte sexuelle Aktivitäten mit Gleichaltrigen können ein Indiz für sexuellen Missbrauch bei Kindern sein. Dies trifft vor allen Dingen bei Kindern aus inzestuösen Familien zu.  Frauen können außerdem das Problem haben, sich fest an einen Partner zu binden.
Prostitution kann eine Folge von sexuellem Missbrauch sein, wenn das Kind gelernt hat, für die sexuellen Handlungen materielle Gegenleistungen zu bekommen. Wichtig dabei ist zu betonen, dass nicht jede Prostituierte sexuell missbraucht worden ist, und sich genauso wenig jedes sexuell missbrauchte Kind später prostituiert. Nach Studien sind dies ca. 1-2% der missbrauchten Kinder.
Prostitution kann sexuell missbrauchten Frauen und Männern vielleicht leichter fallen, weil sie ihre Gefühle vom Sex abspalten können. Strauß und Mette-Zillessen berufen sich auf Studien mit Prostituierten, die sagten, dass sie die Prostitution als Macht und Beherrschung der Situation erleben. Nach diesen Studien handelt es sich überwiegend um sexuellen Missbrauch durch den Vater und meist kam es zum Geschlechtsverkehr zwischen Tochter und Vater.
Besonders gefährdet sind demnach auch Jugendliche, die ihr Elternhaus frühzeitig verlassen und für ihren Lebensunterhalt selber aufkommen müssen, eventuell sogar auf der Straße leben.
 


6.2.3 Sexuelle Neigungen

Zum diesem Thema wird in der Literatur nur wenig berichtet. Am häufigsten wird aber dabei der Masochismus genannt.
Masochismus kommt eher bei Menschen vor, die den sexuellen Missbrauch mit Gewalt und Aggressionen erlebt haben. Dies ist eine Form des selbstverletzenden Verhaltens. Es gibt Frauen, die in sadomasochistischem Sex eine Möglichkeit sehen, mit Macht zu experimentieren.
Pädophilie Neigungen oder Homosexualität bei Missbrauchsopfern werden in der Fachliteratur zum Teil auch genannt, soll aber aufgrund der wenigen Informationen hier nicht näher erläutert werden.

Sexualität und auch Störungen in der Sexualität sind Themen, die Menschen, und zwar nicht nur sexuell missbrauchte, stark belasten können.
In der Beratung muss mit diesem Thema sensibel umgegangen werden. Es ist wichtig, die Grenzen der Klientin zu erkennen, aber auch auf die eigenen Grenzen zu achten.
In einer Beratung z.B. fing eine Klientin (auf die ich auch noch mal im Kapitel 7.2 kommen werde) an, detailliert über ihre sexuellen Erlebnisse und Phantasien zu sprechen. Dies hat sowohl bei der Beraterin als auch bei mir unangenehme Gefühle geweckt und uns in Verlegenheit gebracht. In dieser Situation hatte ich das Gefühl, dass mich diese „Dinge” nichts angehen. Wichtig ist hier, auch auf die eigenen Gefühle zu hören und die Klientin zu „bremsen”. Eine detaillierte Beschreibung sexueller Erlebnisse wird wahrscheinlich für die Beratung nicht nützlich sein, sondern kann die Sitzung eher stören, wenn sich dadurch eine unentspannte Situation entwickelt.
Außerdem sollte in solchen Fällen geschaut werden, welche Gründe diese „Redseligkeit” haben könnte. Ist die Klientin vielleicht (unbewusst) „stolz” auf ihre sexuellen Erlebnisse? Mag sie es vielleicht, sich dadurch in den Mittelpunkt zu stellen? Oder handelt es sich um eine Form von Widerstand (siehe Kapitel 7.5)?
Es ist wichtig, dass sexuell missbrauchte Männer und Frauen lernen, dass Sexualität nicht immer mit unangenehmen Gefühlen zusammenhängen muss.  Sexualität soll  nicht mit Unterwerfung zusammen gesehen werden, sondern sollte selbstbestimmt ausgelebt und genossen werden.
Sozialarbeiter sollten, wenn es um das Thema Sexualität geht, mit ihrer eigenen Sexualität im Klaren sein. Es sollte offen mit der Klientin über Sexualität gesprochen werden können. Dennoch ist hierbei die Einhaltung der eigenen Grenzen und der der Klientin wichtig. Nicht alles sollte in der Beratung angesprochen bzw. erzählt werden, besonders wenn man das Gefühl hat, dass die Erzählungen „niemanden etwas angehen”.


6.3 Depressionen

Sexueller Missbrauch kann sich negativ auf das psychische Befinden auswirken. Durch die Demütigung und das Gefühl ausgenutzt zu werden, aber auch Ekel- und Schamgefühle, können zu einem geringen Selbstwertgefühl beitragen.
Depressive Verstimmungen hat wahrscheinlich schon jeder Mensch erlebt: man ist traurig, niedergedrückt, pessimistisch, hoffnungslos und antriebsgemindert. Dazu hat man wenig Interesse an der Außenwelt, das Selbstwertgefühl ist gemindert und die Liebesfähigkeit eingeschränkt. Vegetative Störungen, wie Schlafstörungen, Gewichtsverlust, Störungen der Libido usw. können hinzukommen. Menschen mit Depressionen haben ein erhöhtes Suizidrisiko.
Nach verschiedenen Studien treten Depressionen gehäuft bei Frauen auf, die mehrmals sexuell missbraucht worden sind. Dabei ist Inzest neben der Schwere und Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs der wohl stärkste Auslöser, denn hier treten depressive Störungen doppelt so häufig auf. Interessant erscheint auch das Ergebnis, dass in der Kindheit sexuell missbrauchte Männer selten oder gar nicht zu Depressionen neigen.
Unklar bei diesen Untersuchungen sind das Alter, in dem der Missbrauch stattgefunden hat und die Art der Täter-Opfer-Beziehung (mit Ausnahme des Vater-Tochter-Inzests)
In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass nicht jeder Erwachsene, der an Depressionen leidet, als Kind sexuell missbraucht worden sind.
Es gibt auch andere verschiedene Belastungsfaktoren in der Kindheit, die für Erwachsene Depressionen zur Folgen haben können. Dazu gehören z.B. chronische finanzielle Probleme, eine längere Trennung von der Mutter, chronische Disharmonie in der Familie, enge räumliche Verhältnisse usw.
Suizidale Tendenzen sollten in diesem Zusammenhang mit berücksichtigt werden. Verschiedene Studien gehen davon aus, dass sexuell missbrauchte Männer und Frauen eher an Suizid denken oder Suizidversuche unternommen haben, als Nicht-Missbrauchte.
In der Beratung sollte es in diesem Zusammenhang um die Verbesserung des Selbstwertgefühls gehen. Klientinnen können dazu neigen, sich in die Depressionen hineinzusteigern. Beraterinnen sollten diese Gefühle ernst nehmen und daran arbeiten. Gleichzeitig sind die Klientinnen auf positive Bestätigung und Trost angewiesen. Als sinnvoll erscheint mir auch die Konzentration auf schöne und erfolgreiche Aspekte im Leben der Klientin, auf die aufgebaut werden kann.
Wie auch im Zusammenhang mit den anderen Folgen und Erkrankungen sollte die Beraterin auf ihre Beratungsgrenzen achten, da in vielen Fällen eine Behandlung durch einen Psychologen erforderlich ist.
 


6.4 Borderline-Persönlichkeitsstörung

Schwerwiegende Inzesterfahrungen in Kombination mit einer gestörten Mutter-Tochter-Beziehung haben gehäuft eine Borderline-Störung zur Folge.
Es ist nicht alleine der sexuelle Missbrauch, der eine Borderline-Erkrankung verursachen kann, sondern auch zusätzlich ein gestörtes Familiensystem, die diese Störungen begünstigen. Inzesterfahrungen bilden hier die schwerwiegendste Form von gestörten Familienverhältnissen.
„Von 13 Frauen, die vom Vater/Stiefvater misshandelt worden sind, leiden 9 an einer Borderline-Störung, 3 an einer Narzisstischen Neurose und 1 an einer Psychose.”
Menschen mit einer Borderline-Störung sind in ihrem zwischenmenschlichen Verhalten, in ihrer Stimmung und in ihrem Selbstbild extrem instabil. Häufig zeigen sie impulsives und unberechenbares Verhalten. Ihre Stimmungen können zwischen normal bis ängstlich-bedrückt, mit heftigen Zorn oder mangelnder Kontrolle über den Zorn, schwanken. Es ist möglich, dass sie eine tiefgehende Identitätsstörung im Bereich von Selbstbild, Geschlechtszugehörgkeit oder langfristigen Zielen und Werten haben. Sie können möglicherweise schlecht Alleinsein ertragen  und empfinden ein chronisches Gefühl von Leere und Langeweile.
Typisch sind die Spaltungsmechanismen von Borderline-Patienten. Dabei geht es um die so genannte Ich- und Objektspaltung, wobei der Patient sich und andere Menschen entweder nur in „gut” oder nur „böse” sieht („Entweder-Oder”).
Wird ein Kind sexuell missbraucht kommt es, wie schon in einigen vorherigen Kapiteln erwähnt, zum Vertrauensmissbrauch. Im Erwachsenenalter kann es soweit kommen, das missbrauchte Frauen und Männer Probleme haben, Beziehungen aufzubauen, da sie Angst davor haben, ausgenutzt zu werden. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum diese Menschen nur sehr schwer stabile Beziehungen aufbauen können. Dies kann sich auch negativ auf die Klienten-Professionellen-Beziehung auswirken, denn ohne Beziehung ist keine Behandlung möglich.
Zu diesen problematischen zwischenmenschlichen Beziehungen kommen noch erschwerend die gestörte Identität und das gestörte Selbstbild hinzu. Das Selbstbild ist gespalten in Einzigartigkeit und  Schlechtigkeit oder Macht und Ohnmacht und „findet sich am deutlichsten bei Opfern des Vater-Tochter-Inzest, deren typische Psychodynamik durch die gegensätzlichen Gefühle des ödipalen Triumphes und unerträglicher Schuldgefühle geprägt ist.”
Ein Kind, dass Inzest erfährt, lernt außerdem einen widersprüchlichen Vater kennen, der auf der einen Seite dem Kind Liebe schenkt, auf der anderen Seite aber Dinge tut, die im Widerspruch dazu stehen.
Die Angst vor dem Alleinsein kann eine Folge davon sein, dass das Kind sich einsam und alleine gefühlt hat bzw. tatsächlich alleine war. Zum einen die Geheimhaltung des sexuellen Missbrauchs, Drohungen, Misstrauen, sowie die nicht ernst genommenen Andeutungen über den sexuellen Missbrauchs können beim Kind Gefühle des Alleinseins hervorrufen.
Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Kapitel ist die Dissoziation. Kinder können lernen, während des sexuellen Missbrauchs die Gefühle, Wahrnehmungen und Empfindungen von ihrem Körper abzuspalten. Dieser Zustand wird in einigen Büchern mit Schlaf oder Koma verglichen. Mit diesem Schutzmechanismus können Kinder den sexuellen Missbrauch, insbesondere wenn er mit Schmerzen und Ekel verbunden ist, aushalten.
Je früher das Kind den Inzest erlebt, also die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes gestört wird, desto schwerer ist die daraus resultierende Erkrankung.
Für Sozialarbeiter/innen, die mit sexuell missbrauchten Frauen und Männern arbeiten, ist es wichtig, Kenntnisse über diese Persönlichkeitsstörung zu haben. Dies gilt im Übrigen auch für andere Folgen auf die Psyche des Menschen.
Borderline-Patienten können in der Beratung starke Aggressionen ausleben, die gegen die Beraterin gerichtet sein können. Für Sozialarbeiter/innen ist es hierbei wichtig, die Aggressionen auszuhalten und nicht persönlich zu nehmen.
Des Weiteren ist es wichtig, bei besonders schweren Fällen an einen Psychologen zu verweisen. Eine nicht adäquate Beratung kann zum einen die Klientin weiter schädigen und auf der anderen Seite auch die Beraterin verletzen.
 
 


6.5 Psychosen

Es gibt verschiedene Formen von Psychosen, so dass man sich nicht auf eine allgemeingültige Definition berufen kann.
Es wird angenommen, dass Psychosen zum einen hirnorganisch begründbar sind, auf der anderen Seite spielen aber auch soziale und psychodynamische Faktoren eine Rolle.
König  vergleicht die Psychose mit der Neurose und sagt, dass es zwar bei beiden um die gleichen Konflikte und Probleme geht, die aber verschieden verarbeitet und mit denen verschieden umgegangen wird. Bei der Psychose ist dies wahrscheinlich in der Kombination von genetischen Faktoren mit Umwelteinflüssen begründbar.
Eine Psychose ist eine Krankheit, bei der die psychische Funktion so weit beeinträchtigt ist, dass der Mensch eine gestörte Fähigkeit besitzt, die üblichen Lebensanforderungen zu meistern. Dabei ist der Realitätsbezug eingeschränkt. Auf Belastungen neigen diese Menschen überdurchschnittlich stark mit Spannung, Angst, Verwirrung, Denkstörungen, Derealisations- und Depersonalisationserlebnissen bis hin zu Wahn und Halluzinationen.
Es wird davon ausgegangen, dass Menschen, die sexuell missbraucht worden sind signifikant häufiger an Psychosen erkranken, als in der Allgemeinbevölkerung.
Es versteht sich von selbst, dass die Beratung einer psychotischen Frau ein großes Maß an psychologischen bzw. psychotherapeutischen Kompetenzen verlangt. Des Weiteren ist zu überlegen, ob eine an einer Psychose erkrankte Frau überhaupt beraten werden kann.
Im oben aufgeführten Fallbeispiel geht es um die Klientin Frau S., die unter einer Psychose leidet. Hier konnte in der Beratung nicht genau festgestellt werden, ob der sexuelle Missbrauch wirklich der Realität entsprach oder nicht. Es sollte auch genau überlegt werden, ob eine Aufdeckung und Bearbeitung Sinn macht. Die meisten Psychoanalytiker werden wahrscheinlich zunächst versuchen, die Psychose in den Griff zu bekommen, damit die Frau wieder ihren Lebensalltag alleine bewältigen kann. Der mögliche sexuelle Missbrauch sollte dann noch nicht im Vordergrund stehen, sondern erst dann, wenn die Patientin stabil genug ist und ein „Rückfall” ausgeschlossen werden kann.
Psychotische Menschen haben ihre eigene Realität und leben ihre Phantasien aus (z.B. im Verfolgungswahn, etc.) Daher kann in manchen Fällen nicht mit Gewissheit gesagt werden, ob das, was die Klientin sagt der Wahrheit entspricht oder nicht. Geht die Beraterin auf die Schilderungen ein, kann das dazu führen, dass die Frau sich immer weiter in die Erzählungen hineinsteigert und somit ein psychotischer Schub „unterstützt” wird.
Die Schwierigkeit liegt zum einen darin, psychotische Frauen bzw. Männer und eventuelle psychotische Schübe bzw. deren Anfänge zu erkennen und adäquat darauf zu reagieren. Wenn eine Beraterin diese psychische Krankheit nicht erkennt bzw. nicht in Erwägung ziehen kann, läuft sie Gefahr, der Patientin weiter zu schaden.
In einer Beratung erzählt eine psychotische Frau (in Begleitung mit einer Betreuerin) von ihrem Freund, der sie angeblich regelmäßig vergewaltigt bzw. missbraucht und ausnutzt. Die Frau ist in ihren Schilderungen kaum zu bremsen, sie kann kaum unterbrochen werden. Die Beraterin, die zu diesem Zeitpunkt wenig Erfahrungen mit psychotischen Menschen gemacht hat, lässt die Frau reden und zeigt Verständnis. Das hat die Klientin wahrscheinlich motiviert, sich immer weiter in die Schilderungen hineinzusteigern, so dass sie zum einen detaillierte Erzählungen über ihr Sexualleben preisgab und am Ende immer ausgefallenere Geschichten schilderte, in denen der Freund sie z.B. an seine Freunde verkaufte.
Die zweite Sitzung wurde von einer Beraterin geführt, die über psychotherapeutische Erfahrungen verfügte. Sie ging stark in die Konfrontation, „bremste” damit die Klientin und hinterfragte die Erzählungen. Dies schien der Klientin nicht zu gefallen, denn mitten in der Beratung wollte sie das Gespräch beenden und nach Hause gehen.
Diese Sitzung zeigte ganz klar, dass die Klientin nicht therapierbar war und eine Beratung „in ihrem Sinne” nur ihre Phantasien unterstützen würde.
In diesem Fall war die Psychose recht offensichtlich, doch es gibt auch Fälle, in denen diese Krankheit nicht sofort zu erkennen ist. Diese Kompetenz zu gewinnen ist für mich ein wichtiger Aspekt, um eine professionelle Hilfe -und das in jeder Form von Beratung- leisten zu können.
Ansonsten kann man nicht nur der Klientin schaden, sondern auch sich selber, insbesondere dann wenn man sich die Erzählungen zu sehr zu Herzen nimmt.
 


6.6 Selbstschädigendes Verhalten

Selbstbeschädigungen haben den „Zweck”, sich selbst zu bestrafen und dadurch seine Schuldgefühle zu mindern. Dahinter steckt ein extremer Selbsthass.
Besonders in der Adoleszenz kommt es häufig zum selbstschädigenden Verhalten, um Gefühle von Leere und Spannungszustände zu beseitigen. Die Selbstverletzung der Haut durch Schnitte, Verbrennungen oder gar Verätzungen führt zu einer Erleichterung, es wirkt wie eine Art Druckventil, was die Spannungszustände reduziert.
Sachsse, der mit solchen Patientinnen arbeitete, sagt, dass es bei 2/3 von ihnen „zu manifesten inzestuösen Beziehungen mit Vätern, Stiefvätern, Onkeln oder Brüdern” gekommen ist.
Selbstschädigendes Verhalten ist ein Zeichen für eine tiefe psychische Störung, die mit extrem großen Schuldgefühlen verbunden ist und therapiert werden muss.
Eine Beraterin muss hier merken, dass sie höchstwahrscheinlich an ihre Beratungsgrenzen stößt und die Klientin an einen Therapeuten verweisen sollte.


6.7 Suchterkrankungen

Nach Untersuchungen und Befragungen von Dirk Bange sehen viele Alkohol- und Drogenabhängige den sexuellen Missbrauch als Grund für ihr Suchtverhalten. Doch auch hier ist wieder klar festzuhalten, dass nicht jeder sexuell missbrauchte Mensch später an einer Sucht erkrankt um umgekehrt nicht jeder Suchtkranke sexuell missbraucht worden ist.
Dennoch kann gesagt werden, dass viele Abhängige in ihrem Leben, insbesondere in der Kindheit und Adoleszenz, sexuellen Missbrauch, Gewalt und/oder Vertrauensmissbrauch in engen Beziehungen erlebt haben. Der Griff zu Suchmitteln erfolgt als Versuch der Lebens- und Konfliktbewältigung.
Psychoanalytiker sehen die Ursache der Sucht in einem gestörten Ich, also in einer Störung der Persönlichkeitsstruktur, wobei sich allerdings verschiedene Perspektiven entwickelt haben.
Ich möchte hier auf die Sucht als Vermeidung von Unlustgefühlen und Sucht als selbstzerstörerisches Handeln eingehen.
Der Griff zu Suchtmittel kann als Selbstheilungsversuch eines schwachen, labilen Ichs verstanden werden. Ein gestörtes Ich hat eine niedrige Frustrationstoleranz, das heißt, Menschen mit einer Ich-Störungen können mit Frustrationen und Konflikten im Alltag schlechter umgehen. Um diese Frustrationen und unangenehmen Gefühle zu dämpfen, greifen Menschen zu Mitteln, die eine euphorische Wirkung haben.
„Die Handlungen des suchtkranken Menschen sind weniger auf das positive Ziel hin orientiert, etwa einen Lustgewinn zu erreichen, sondern sie sind auf das negative Ziel ausgerichtet, eine Spannung loszuwerden.”  Dabei handelt es sich um einen Selbstheilungsversuch des labilen Ichs, der süchtige Mensch möchte seine Beschwerden lindern. Drogen beruhigen, lindern Schmerzen und verändern das Bewusstsein, so dass Unlustgefühle beim Individuum gemindert bzw. beseitigt oder erst gar nicht erlebt werden.
Es kann zu gravierenden Ich-Störungen kommen, wenn ein Kind in seiner Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt wird, wie es beim sexuellen Missbrauch der Fall ist.
Ein anderer Ansatz ist die Drogensucht als Selbstdestruktion und Suizidalität. Süchtige wissen in der Regel, wenn auch unbewusst, dass der Missbrauch von Drogen schädigend ist und je nach Art und Dauer tödlich enden kann. Alkoholismus wird hier als eine „Form des chronischen, verlangsamten Selbstmordes” gesehen.
Für mich stellt sich die Frage, inwieweit eine süchtige Klientin -insbesondere, wenn sie unter Drogeneinfluss steht- zu beraten ist, oder anders gesagt, ob eine Beratung bei dieser Klientin Sinn macht. Sinnvoller wäre hier wahrscheinlich zunächst ein Entzug und eine Stabilisierung der Klientin durch eine stationäre Behandlung, sofern Interesse und der Wille dazu besteht. In der Beratung sollte die Wichtigkeit des Entzuges zunächst im Mittelpunkt stehen. Ist die Beraterin damit überfordert, sollte sie die Klientin an eine andere (Sucht-)Beratungsstelle verweisen.
Es sollte wahrscheinlich erst nach einem Entzug, je nach Persönlichkeit der Patientin während der Stabilisierung, der sexuelle Missbrauch mit einem Therapeuten aufgearbeitet werden.
 


6.8 Essstörungen

Bei Essstörungen spielt die Psychodynamik eine große Rolle. Es gibt bestimmte Krankheitsbilder, die durch eine Wechselwirkung zwischen biologischen, psychischen und sozialen Einflüssen entstehen.
Insbesondere junge Frauen leiden unter einer Essstörung. Hierbei wird im Allgemeinen zwischen drei Formen unterschieden: der Adipositas (Fresssucht), Anorexia nervosa (Magersucht) und Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht).
Bei der Magersucht fällt zunächst das Untergewicht auf. Die Mädchen schränken die Nahrungsaufnahme stark ein, um an Gewicht zu verlieren, bzw. um nicht an Gewicht zuzunehmen. Dazu kommt die Einnahme von Appetitzüglern und eventuell Erbrechen. Bei den Mädchen kann man ein stark gestörtes Körperbild erkennen, meist fühlen sie sich trotz Untergewicht zu dick und wollen weiter an Gewicht verlieren. Willenberg sagt dazu: „Das Bemühen, um jeden Preis die Kontrolle über den Körper und seine Funktionen zu gewinnen, kann als Ausdruck eines starken, jedoch stets gefährdet erlebten Autonomiebedürfnisses verstanden werden.”
Bei der Bulimie, unter der nach Statistiken sexuell missbrauchte Mädchen häufiger leiden als an Magersucht, ist durch Essattacken und Heißhunger gekennzeichnet. Dabei werden wahllos Unmengen von Nahrungsmitteln aufgenommen und anschließend wieder erbrochen. Hier geht es überwiegend um das Halten des (Normal-) Gewichts und ist daher unauffälliger als die Magersucht. Allerdings steht auch hier die Angst vor Gewichtszunahme im Vordergrund.
Im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch wird angenommen, dass Mädchen ihre „gerade sichtbar werdende sexuelle Entwicklung” aufhalten möchten oder rückgängig machen wollen.
Willenberg hat verschiedene Aspekte zur Psychodynamik der Essstörungen im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch berücksichtigt.
So führen nach seinen Erkenntnissen einschneidende Erlebnisse zum „Ausbruch” der Essstörung bzw. zur Verstärkung der Krankheit, wie z.B. nach dem Tod einer Bezugsperson oder durch eine außerfamiliäre  (Liebes-) Beziehung.
In vielen Fällen fühlen sich die Frauen unerwünscht und ungeliebt, was ein Zeichen für ein gestörtes Familiensystem bzw. eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung ist. Außerdem misst Willenberg der Scham, Schuld und dem Strafbedürfnis eine große Bedeutung bei. Schuld- und Schamgefühle können sich nicht nur durch den sexuellen Missbrauch manifestieren, sondern auch durch Schuldzuweisungen durch die Eltern, die z.B. auf die eigene Existenz gerichtet sind. In einem Beispiel nennt Willenberg eine Frau, deren Mutter ihr die Schuld für ihren schlechten Gesundheitszustand  und den Verzicht auf eine berufliche Karriere verantwortlich gemacht hat.
Im Weiteren ist die Beziehung zum Vater zu betrachten. In manchen Fällen kann der Vater trotz des sexuellen Missbrauchs ein enger Verbündeter oder ein Vertrauter für das Kind gewesen sein. Auch unbewusst kann sich das Kind in einer „ödipalen Konstellation” solidarisch mit dem Vater zeigen und sich gegen die Mutter bzw. gegen die Geliebte des Vaters lehnen.
„Von 85 Patientinnen mit Essstörungen aus dem Formenkreis der Magersucht, war in 25,8% der Fälle eine „deutlich erotisch getönte Familienatmosphäre” aufweisbar.”
An den hier genannten Punkten kann man erkennen, dass oftmals nicht alleine der sexuelle Missbrauch zu einer Essstörung führt, sondern ein Bündel von sich beeinflussenden Faktoren, wie z.B. ein gestörtes Familiensystem zu Magersucht bzw. Bulimie führen kann.
Diese Erkenntnis ist gerade deshalb wichtig, damit in der Beratung die individuellen Erfahrungen und Lebensgeschichte mit berücksichtigt werden. Sowohl der Beraterin als auch der Klientin soll klar sein, dass nicht alles auf den sexuellen Missbrauch zu schieben ist bzw. alles Folge vom sexuellen Missbrauch sein muss. Der sexuelle Missbrauch sollte daher nicht alleine im Mittelpunkt der Beratung stehen, sondern das gesamte Umfeld und die Lebensgeschichte.
 




7. Beratungsarbeit mit missbrauchten Frauen

Berater/innen und Therapeuten/innen, die mit missbrauchten Frauen arbeiten, setzen sich mit einer vielschichtigen Problematik und einer erschütternden Thematik auseinander, was unbedingt professionell angegangen werden muss.
Eigene Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch, so wie Mitarbeiterinnen in einigen Beratungsstellen sie haben, sind für eine professionelle Beratung alleine nicht ausreichend. Es dient zwar dem Erfahrungsaustausch, doch eine wirkliche Aufarbeitung und Verarbeitung des Traumas kann eher durch eine psychologische Beratung realisiert werden.
Problematisch sehe ich in diesem Zusammenhang, dass sich die Anwesenden hier gemeinsam in ihrer Opferrolle halten und die Verantwortung und die „Täterschaft” ganz beim Missbraucher lassen können. Dadurch geht die wichtige Objektivität verloren bzw. kann erst gar nicht entstehen.
In manchen Fällen kann diese Form von Beratung ggf. sogar schädigen, insbesondere wenn die Beraterin nicht die nötige Distanz zum Thema hat oder die Klientin an einer psychischen Krankheit leidet.
Natürlich ist es lobenswert, wenn sich Frauen aus ihrer eigenen Betroffenheit heraus für eine bestimmte Sache einsetzen. Dennoch müssen diese Frauen ehrlich zu sich sein, indem sie zum einen ihre Fähigkeit zur Objektivität überprüfen und zum anderen sicher sind, dass die Beratungsarbeit nicht zur Verarbeitung der eigenen Missbrauchserfahrungen dienen soll.
Missbrauchte Frauen sollten, soweit sie ihre Missbrauchserfahrungen aufarbeiten möchten, möglichst nur von Beratern/innen beraten werden, die psychologische Kenntnisse haben, insbesondere zu den Themen, die in dieser Arbeit behandelt wurden, wie z.B. die Psychodynamiken des sexuellen Missbrauchs, mögliche Störungen im Familiensystem, etc.. Dazu gehören auch Kenntnisse über die möglichen Erkrankungen und Folgen des sexuellen Missbrauchs, um adäquate Hilfe leisten zu können und seine eigenen beraterischen Grenzen zu erkennen.
Eine richtige Aufarbeitung frühkindlicher Konflikte sollte meiner Meinung nach durch einen Psychologen/Psychoanalytiker erfolgen. Zum sexuellen Missbrauch gehören nicht nur die sexuellen Handlungen selber, sondern es geht auch insbesondere um Erlebnisse in der Kindheit, die die Persönlichkeit des Menschen bestimmt und beeinträchtigt haben.
Eine Beratung von unprofessionellen und unerfahrenen Frauen kann noch mehr Schaden anrichten, als eigentlich schon da ist.
In den vorherigen Kapiteln habe ich versucht, einen Bezug zu der Beratungsarbeit herzustellen. In diesem Kapitel gehe ich auf Aspekte ein, die einer besonderen Bearbeitung bedürfen.
 


7.1 Sexualpädagogischer Ansatz

In diesem Kapitel lehne ich mich stark an den Ansatz von Wildwasser Dortmund e.V. Der Verein geht davon aus, dass auch heute noch Frauen zum Teil Schwierigkeiten haben, sich aus sich selber heraus zu definieren und ihre eigene Identität zu bilden. Sexualität ist dabei ein wichtiger Bestandteil der Identität.
Eine lustvolle und befriedigende Sexualität ist eine Voraussetzung, um ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen.
Gerade Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, können Schwierigkeiten haben, ihre Sexualität selber zu bestimmen. Spalten sie ihre Sexualität ab oder wird diese verdrängt, werden sie daran gehindert, ihre Sexualität und somit auch ihr Leben zu genießen.
In der Beratung sollen Frauen ermutigt werden, Beziehungen einzugehen und Sexualität abseits von Gewalt und Missbrauch kennen zu lernen. Sie sollten lernen, dass Sexualität etwas Positives ist und nicht mit negativen Aspekten besetzt sein muss.
Dies könnte den Ansätzen mancher Frauenberatungsstellen widersprechen. Insbesondere dann, wenn sich die Betroffenen -wie schon erwähnt- kollektiv in der Opferrolle sehen oder von einem patriarchalen System ausgehen, indem beinahe alle Männer potentielle Vergewaltiger sind.
Diese Meinung steht im Widerspruch zum sexualpädagogischen Ansatz, bei dem die Frauen nicht an Sexualität gehindert werden, sondern eher dazu „ermutigt” werden sollen.
 


7.2 Die Präsenz des Missbrauchers

Auch wenn der sexuelle Missbrauch vielleicht schon Jahre zurückliegt, bestimmt doch die Missbrauchsbeziehung das Erleben und Wahrnehmen der Betroffenen.
Da Menschen, die sexuellen Missbrauch erlebt haben, von dem Missbraucher fremdbestimmt worden sind und möglicherweise kein eigenes Ich herausbilden konnten, denken sie vermutlich im Sinne des Missbrauchers, insbesondere wenn es um Beziehungen zu anderen Menschen oder um das Verhältnis zum eigenen Körper geht.
Dabei geht es nicht darum, wie der Missbraucher zu denken sondern in seinem Sinne, das heißt die Betroffene entschuldigt möglicherweise das Geschehen, hat Mitleid mit dem Missbraucher oder gibt sich eventuelle selber die Schuld für den Missbrauch.
Es geht also in diesem Punkt darum, den Missbraucher zu entmachten und der Frau die Möglichkeit zu geben, ihr Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen.
In diesem Sinne ist es nötig, dem Missbrauchsopfer die schönen und erfolgreichen Erlebnisse im bisherigen Lebensweg vor Augen zu führen. Es sollte ihm/ihr bewusst gemacht werden, dass nicht alles Missbrauch oder Missbrauchsfolgen sind. Damit soll klar gemacht werden, dass die Präsenz des Missbrauchers begrenzt ist und dass es auch andere, stärkende Personen im Umfeld gibt oder gegeben hat.


7.3 Erinnerungsarbeit

Es gibt Frauen, die nicht genau wissen, ob sie in der Kindheit missbraucht worden sind oder nicht.
Das kann zum einen daher kommen, dass sie in den Jahren des sexuellen Missbrauchs noch sehr jung waren. Auf der anderen Seite versuchen manche Kinder, während des Missbrauchs die Gefühle vom Körper abzuspalten, um die Gefühle der Ohnmacht, Angst oder Ekel erträglicher zu machen.
Andere Kinder wurden möglicherweise vom Missbraucher in ihrer Wahrnehmung beeinträchtigt oder wollten als eigenen Bewältigungsversuch die Ereignisse ent-realisieren, so dass sie im Erwachsenenalter vielleicht nicht mehr wissen, ob es Realität oder ein Traum war.
Bei manchen Beratern und Therapeuten kann sich die Frage stellen, ob sich hinter den Schilderungen ein realer Inzest oder eine Phantasie der Klientin verbirgt.
Hier ist es weder erforderlich eine ablehnende Haltung einzunehmen, denn dies würde bei der Klientin weitere Schuldgefühle auslösen, noch sofort Partei für die Klientin zu ergreifen. Auch hier ist zu beachten, dass dieser Teil Beratung durch einen Psychoanalytiker oder durch eine Beraterin mit entsprechender Weiterbildung erfolgen sollte.
In diesem Zusammenhang erwähnt Hirsch  einige Untersuchungen, die belegen sollen, dass Kinder in den meisten Fällen die Wahrheit sagen und falsche Anschuldigungen eher selten sind. Die Untersuchungen sind allerdings sehr alt und man müsste sich fragen, ob diese Zahlen noch zu verwenden sind. In der heutigen Zeit, in der in Medien mit Skandalgeschichten über den sexuellen Missbrauch berichtet wird, können sich Mädchen und Frauen mit einer solchen Anschuldigung in den Mittelpunkt
 

stellen, jemanden zu Unrecht „eins auswischen” und sich damit eigentlich fast immer in der Opferrolle sicher fühlen (der so genannte „Missbrauch mit dem Missbrauch”). Dies soll nicht heißen, dass man von Anfang der Beratung an der Klientin nicht glauben soll, sondern die Beraterin sollte zunächst eine objektive Haltung einnehmen.
Berater/innen und Therapeuten/innen sollten der Klientin signalisieren, dass auch in der therapeutischen Beziehung das „Geheimnis” des sexuellen Missbrauchs gewahrt werden sollte.
Detaillierte Erzählungen über den sexuellen Missbrauch zu erzwingen wäre eine erneute Grenzverletzung und somit ein erneuter Missbrauch seitens der Beraterin. Sie würde dadurch zur Voyeurin und würde vielleicht sogar ihre voyeuristischen Bedürfnisse befriedigen.
Im Leben eines Menschen ist Sexualität in der Regel ein intimes Thema, das nicht mit jedem besprochen werden möchte. Auch in „normalen” sexuellen Beziehungen spielt sich Sexualität nur zwischen den Sexualpartnern ab und auch das Sprechen darüber wird vermieden, da es ja keinem etwas „angeht”.
Genau dies sollte auch in der Arbeit mit missbrauchten Frauen und Männern berücksichtigt werden. Daher sollte auch in der Beratung diese Grenze eingehalten werden. Im Übrigen stellt sich für mich die Frage, inwiefern solche Erzählungen der Beratung dienlich sein sollten.
Des Weiteren sind -wie auch schon des Öfteren in dieser Arbeit erwähnt- nicht nur die sexuellen Handlungen traumatisierend, sondern u.a. auch der Vertrauensbruch seitens des Missbrauchers oder die gestörte Mutter-Kind-Beziehung.
Auf der anderen Seite gibt es auch Klientinnen, die von sich aus sehr schnell anfangen, von ihren sexuellen Erlebnissen zu sprechen. Hier ist es wichtig, die Klientin zu „bremsen”. Es kann gut sein, dass die Klientin die Beraterin unbewusst für ihre Bedürfnisse missbrauchen möchte. So kann die Klientin in der Beratung wieder eine Missbrauchssituation herstellen oder versuchen, die Kontrolle über die Beratungssituation zu bekommen.
Des Weiteren muss die Beraterin hier vorsichtig sein, insbesondere wenn es sich um eine durch die Psychose erlebte Phantasie handeln könnte.
Im Weiteren geht es auch darum, die Beziehung zu dem Missbraucher zu beschreiben. In den meisten Fällen war er ja nicht nur „der Böse” sondern das Kind hat auch eine vertrauensvolle Beziehung zu ihm. Es hat besondere Aufmerksamkeit bekommen, wurde beschenkt, etc.
Diese widersprüchliche Beziehung und auch die Rollenvermischung (Tochter/Geliebte) haben wahrscheinlich zu Verwirrung geführt und sollte aufgearbeitet werden. Es geht hier zunächst um das Verstehen der Situation, um sie hinterher verarbeiten zu können.
Als ein Thema sollte auch die Überlebensstrategien des missbrauchten Kindes besprochen werden. Dabei geht es um die Frage, wie das Kind den Missbrauch verstanden und die Übergriffe überlebt hat. Daraus können jetzige Erlebnis- und Verhaltensweisen abgeleitet werden, also welche Erlebnis- und Verhaltensweisen können die Folge des sexuellen Missbrauchs sein und welche nicht? Wann erlebt die Klientin z.B. heute Hilflosigkeit, Scham, Ekel oder Bedrohung und inwieweit sind diese Gefühle auf das Trauma zurückzuführen?
Hat die Klientin dies verstanden, ist es vielleicht einfacher, mit diesen Gefühlen umzugehen und daran zu arbeiten.
 


7.4 Ablegen des Opferstatus und Konfrontationsarbeit

Sexuell missbrauchte Frauen können dazu neigen, jedes Problem und jede Verhaltensweise auf den sexuellen Missbrauch zu schieben.
Es ist wichtig, dass die Frauen ihren Opferstatus ablegen und lernen, ihr Leben selbstbestimmt zu leben.
Sie müssen erkennen, dass sie ein Trauma erlitten haben und dennoch in der Lage sind, ihr Leben zu leben.
In der Konfrontationsarbeit geht es darum, die Klientin mit den auf den individuellen Einzelfall bezogenen Psychodynamiken zu konfrontieren. Dabei werden, wie schon im Kapitel 5 ausgearbeitet, insbesondere die Beziehungen zum Täter und zur Mutter, aber auch die derzeitigen Beziehungen besprochen. Hierbei ist es wichtig, Kenntnisse und Erfahrungen aus dem psychologischen und psychoanalytischen Bereich zu haben. Bei dieser Arbeit sind Übertragungen und Projektionen seitens der Klientin möglich. Die Beraterin sollte sich damit auskennen und gleichzeitig darauf achten, dass sie in der Gegenwart bleibt und nicht zu sehr in die Vergangenheit geht. Die Aufarbeitung frühkindliche Erfahrungen und Konflikte würde in die Psychoanalyse gehen und sollte daher von einem Psychoanalytiker erfolgen.
 


7.5 Widerstände, Übertragungen und Gegenübertragungen und im Beratungsprozess

Übertragungen, Gegenübertragungen und Widerstände sind wichtige Elemente im (psychoanalytischen) Beratungsprozess.
Widerstand ist eine Kraft, die den Menschen daran hindert, Unbewusstes bewusst zu machen, um somit den pathologischen Zustand zu erhalten. Hierbei handelt es sich meist um negative und schmerzliche Erfahrungen bzw. die Erinnerung an diese Erfahrungen würde schmerzhaft oder peinlich für den Klienten sein. Schuldgefühle, schmerzhafte Affekte, Scham oder Angst, würden in der Psychotherapie ans Tageslicht gelangen und den Klienten mit seinen seelischen Inhalten konfrontieren. In der Psychoanalyse wird alles als Widerstand bezeichnet, was sich der psychoanalytischen Arbeit entgegensetzt. Er richtet sich gegen die Analyse von schwerwiegenden seelischen Inhalten.
Widerstände können sich aber auch gegen die Person des Therapeuten oder gegen seine Technik richten.
Dabei kann sich der Widerstand in verschiedenen Formen äußern. Ausdrucksmöglichkeiten können Gefühle, Einstellungen, Ideen, Impulse, Phantasien oder Handlungen sein. Eine Person kann sich z.B. Vorschlägen, Anordnungen oder empfohlenen Handlungen einer anderen Person widersetzen.
In der Beratung gibt es für die Klientin verschiedene Möglichkeiten, Widerstände zu zeigen. So können sie z.B. regelmäßig zu den vereinbarten Sitzungen zu spät kommen, am Beginn oder auch mitten in der Sitzung lange schweigen oder auch ganz im Gegenteil viel reden und die Beraterin nicht zu Wort kommen lassen.
Es können sich auch Widerstände zeigen, wenn sich während der Beratung eine gespannte Atmosphäre zwischen Klientin und Beraterin entwickelt. Dies kann dann auch an der Person der Beraterin oder an der Technik liegen.
Hierzu ein kurzes Beispiel aus der Praxis: Eine Frau, die eine Beratung benötigt, weil sie von ihrem Lebenspartner geschlagen wurde, wird gefragt, ob sie vielleicht masochistische Tendenzen haben könnte. Woraufhin die Klientin zunächst mit Abwehr reagiert, die Beraterin „attackiert”, ihren unbewussten Masochismus aber später doch für möglich hält.
Die Widerstände können in der Beratung angesprochen werden, damit die Klientin damit konfrontiert wird und die Widerstände an das Bewusstsein gelangen. Dies ist insbesondere dann nötig, wenn sich die Widerstände gegen die Beziehung zwischen Beraterin und Klientin handelt.
Bei der Übertragung werden verdrängte Einstellungen, Gefühle und Erlebnisse aus zwischenmenschlichen Beziehungen in der Therapie wieder belebt, indem die Klientin den Therapeuten zum Zielobjekt dieser alten Gefühle und Gedanken macht.
Der Therapeut reagiert bei jeder Übertragung mit einer Gegenübertragung. Das bedeutet, der Patient weckt durch seine Übertragungen bestimmte Gefühle beim Therapeuten. Dieser kann z.B. den Klienten ablehnen oder ihn mögen, er kann Gefühle von Mitleid, Ärger oder Ähnlichem haben. Diese Gefühle sind ein wichtiges Instrument der Psychoanalyse.
Als Beraterin ist es wichtig, die Gefühle, die die Klientin bei der Beraterin auslöst, ernst zu nehmen und damit zu arbeiten. In der Psychoanalyse werden diese Gegenübertragungen im Setting angesprochen. Auch in der Beratung können diese Gefühle analysiert werden, indem man sie in den Zusammenhang mit dem Gesagten stellt und es mit der Klientin bespricht.
Wichtig ist, dass die Beraterin gelernt hat, mit ihren Gegenübertragungen umzugehen. Sie muss lernen, aggressive Impulse, die die Klientin ggf. auf die Beraterin projiziert, auszuhalten. Außerdem sollte sie mit ihrer eigenen Lebensgeschichte gearbeitet haben, damit sie mit den Gegenübertragungen umgehen kann. Das heißt, sie muss ausschließen können, dass die bei ihr ausgelösten Gefühle nichts mit der eigenen Lebensgeschichte zu tun hat. Dies schafft sie u.a. durch Supervision und Selbsterfahrung.
Für Sozialarbeiter ist also das Wissen von und der Umgang mit Widerständen, Übertragungen und Gegenübertragungen wichtig für die jede beratende Tätigkeit. In jede Beziehungen „schleichen” sich unbewusst Übertragungen ein. Es ist ein wichtiges diagnostisches Mittel und kann daher nützlich für den weiteren Verlauf der Beratung sein.
 


7.6 Mögliche Probleme in der Klienten-Professionellen-Beziehung

Es gibt natürlich viele Probleme, die in jeder Klienten-Professionellen-Beziehung entstehen und somit den Beratungsprozess stören können.
Probleme können insbesondere dann entstehen, wenn sich zwischen Beraterin und Klientin keine Beziehung entwickeln kann. Denn eine Beziehung ist die Grundbedingung für eine erfolgsversprechende Beratung und zur Erreichung des definierten Zieles. Es geht hierbei um eine professionelle Beziehung, d.h. hier wird ein bestimmtes Ziel im Bezug zum Klienten und sein Problem angestrebt und die Beziehung ist zeitlich begrenzt.
Gefühle und Haltungen bestimmen diese Beziehung und es ist wichtig, eine entspannte und angenommene Atmosphäre zu schaffen. Erst dann kann die Klientin Vertrauen aufbauen und sich öffnen. Eine Beraterin kann nur dann eine solche Beziehung aufbauen, wenn sie der Klientin Verständnis und Wertschätzung entgegenbringen kann. Ist dies nicht der Fall, wird sie mit Widerständen reagieren und den Beratungsprozess stören.
In einer entspannten und auf Vertrauen aufgebauten Beratungssituation können auch eher die bewussten und unbewussten Bedürfnisse auf Seiten der Klientin ausgedrückt werden.
In jeder professionellen Beziehung zwischen Klienten und Sozialarbeiter kommt es zu unbewussten Übertragungen, wobei mit (unbewussten) Gegenübertragungen reagiert wird. Kann die Beraterin mit diesen Übertragungen und Gegenübertragungen nicht umgehen, kann es zur Verzerrung der Professionellen-Klienten-Beziehung kommen. Eventuell kann sich sogar keine richtige Beziehung entwickeln.
Wie im oberen Beispiel mit der „masochistischen Frau” beschrieben, entwickelte sich zwischen den beiden Frauen zunächst eine angespannte und aggressive Atmosphäre. Die Beraterin konnte diese aggressiven Impulse aufgreifen und damit arbeiten, anstatt sie auf die eigene Person zu beziehen. Dadurch konnte die Klientin wiederkommen und es entwickelte sich in den folgenden Sitzungen eine professionelle Beziehung.
 


7.7 Gruppentherapie

Es gibt verschiedene Gruppen, die sich mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs auseinandersetzen. Hierbei ist jedoch die Selbsterfahrungsgruppe von der Selbsthilfegruppe abzugrenzen.
In einer Selbsthilfegruppe sitzen ausschließlich Betroffene, die ihre eigenen Erfahrungen austauschen. Ein/e Therapeut/in ist nicht anwesend.
Die Selbsterfahrungsgruppe wird von einer/einem Therapeutin/en geleitet und zielt auf eine Therapie in der oder auch durch die Gruppe ab. Hier gibt es verschiedene Ansätze, welche Funktion die Gruppentherapie erfüllen und wie sie durchgeführt werden soll.
Der Therapeut sieht dabei die Gruppe als Ganzes, d.h. die Prozesse, Interaktion der einzelnen Teilnehmer, die Entwicklung der kollektiven bewussten und unbewussten Phantasien der Gesamtgruppe werden betrachtet. Hierbei entwickelt sich -wie eigentlich bei jeder Gruppe- eine bestimmte Gruppendynamik, bei der jedes Gruppenmitglied eine Rolle übernimmt. Hoffmann und Hochapfel  sprechen von der Verteilung der Triebfunktionen, Gewissensfunktionen und Ich-Funktionen auf die einzelnen Gruppenmitglieder (z.B. ein Mitglied ist „Moral der Gruppe”, was den anderen Schuldgefühle machen möchte usw.)
Einige Gruppenpsychotherapeuten (Wolf, Sander, W. Schindler) sehen in der Gruppe ein System von Personen, bei der die Mitglieder auf die anderen Mitglieder übertragen. Der Therapeut deutet diese Übertragungen, nicht aber den Gruppenprozess. Die Mitglieder können in der Sitzung Beziehungen aus der Primärfamilie reinzenieren. In diesem Zusammenhang gibt es neue Überlegungen, den Aspekt der Einzeltherapie in der Gruppe stärker zu betonen und den Gruppenprozess stärker einzubeziehen.
Die Therapeutin kann diese Übertragungen und Reinzenierungen aufgreifen, erklären und somit ihr Wissen zur Verfügung stellen.
Da der Selbsterfahrungswert in diesen Gruppen sehr groß ist und durch die Reinzenierungen während der Sitzungen mit Aggressionen verbunden sein kann, können die Frauen stark belastet werden. Daher ist nicht jede Frau für eine Selbsterfahrungsgruppe geeignet. Dennoch ist diese Art von Therapie lehrreich, dient der Selbsterfahrung und kann dem besseren Umgang mit der eigenen Lebensgeschichte dienen.
 




8. Schlusswort

Mit dieser Arbeit ist es mir hoffentlich gelungen, die Problematik des sexuellen Missbrauchs objektiv und unparteiisch zu behandeln.
Natürlich ist dies in manchen Fällen aufgrund der Brisanz und der emotionsgeladenen Thematik nicht ganz einfach. Dennoch bin ich der Meinung, dass die kindliche Spaltung in Gut (Opfer) und Böse (Täter) so weit wie möglich aufzuheben.
Die Arbeit mit sexuell missbrauchten Frauen und Männern erfordert eine Distanz zu dem Thema und das Wissen über Dynamiken und Folgen. Wie in dieser Arbeit häufig erwähnt, sollte nicht allein der sexuelle Missbrauch im Mittelpunkt stehen sondern die gesamte Familienkonstellation mit ihren Dynamiken und ganz besonders auch die Beziehung zu dem Täter. Gerade die tragen mit zum Trauma bei.
Ohne Zweifel kann gesagt werden, dass die Menschen, die sexuellen Missbrauch erfahren haben, eine schlimme Erfahrung gemacht haben und auch die Solidarität zu den Tätern fällt sicherlich in den meisten Fällen nicht leicht. Dennoch ist es meiner Meinung nach wichtig, dass sich die Betroffenen nicht ihr Leben lang in der Opferrolle sehen und sich selber bemitleiden.
Da die Betroffenen grundsätzlich auf der guten Seite stehen und sich der Solidarität aus der Bevölkerung sicher fühlen können, besteht meiner Meinung nach ein erhöhtes Risiko des Missbrauchs mit dem Missbrauch.
Dies bedeutet nicht, dass man ihnen grundsätzlich nicht glauben soll. Einige Beratungsstellen gegen sexuellen Missbrauch ergreifen nur anscheinend zu früh Partei für die Opfer, berücksichtigen nicht die eigenen Anteile an dem erlebten Trauma. Auch hier sind die Betroffenen grundsätzlich „die Guten” und werden voll aus der Verantwortung genommen, denn die hat ganz und allein der Täter. Dies ist meiner Meinung nach ein zu einfaches und kindliches Denken. Dadurch wird alles im derzeitigen auf den sexuellen Missbrauch -und folglich auch dem Täter- geschoben, nach dem Motto: der Täter ist an Allem Schuld.
Wenn Frauen in die Beratungsstelle kommen, liegt der Missbrauch zwar schon Jahre zurück, sie sind dennoch in einer Situation, die für sie sehr belastend ist.
In der Beratung sollte geschaut werden, was die Klientin selber zu ihrer derzeitigen Situation beigetragen hat. Es sollte ihr bewusst gemacht werden, dass sie den sexuellen Missbrauch überlebt hat und dass er vorbei ist, so dass sie von nun an ihr Leben selber in die Hand nehmen und genießen kann. Dazu gehört das Ablegen des Opferstatus. Wer sich selber zu sehr bemitleidet, sieht nicht die schönen Momente im Leben und wird an einem schön gestalteten Leben gehindert werden.
In diesem Zusammenhang ist es außerdem wichtig, Frauen zu neuen Partnerschaften zu ermutigen, um Liebe und Sexualität abseits von Missbrauch zu erfahren. Sie müssen lernen, dass Sexualität auch etwas Schönes sein kann, das das Leben bereichert.
Liebe und Sexualität in einer glücklichen Partnerschaft sind meiner Meinung nach die Quellen für ein befriedigendes und erfülltes Leben.




9. Literatur

     
  • Bange, Dirk; Deegener, Günther (1996): „Sexueller Missbrauch an Kindern. Ausmaß, Hintergründe, Folgen”
  • Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.) (1997): „Fachlexikon der sozialen Arbeit”
  • Egle, Ulrich; Hoffmann, Sven O.; Joraschky, Peter (Hrsg.) (1999): „Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung”
  • Endres, M; Biermann, G. (Hrsg.) (1998): „Traumatisierung in Kindheit und Jugend”
  • Harten, Hans-Christian (1995): „Sexualität, Missbrauch, Gewalt. Das Geschlechterverhältnis und die Sexualisierung von Aggressionen”
  • Hirsch, Matthias (1989): „Der eigene Körper als Objekt. Zur Psychodynamik selbstdestruktiven Körperagierens”
  • Hirsch, Matthias (1994): „Realer Inzest. Psychodynamik des sexuellen Missbrauchs in der Familie”
  • Hoffmann, Sven O; Hochapfel, G. (1995): „Neurosenlehre, Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin”
  • Knoll, Andreas: „Drogen-, Medikamenten-, Alkoholsucht. Ursachen und Entstehungsbedingungen” (unveröffentlichtes Skript)
  • König, Karl (1997): „Einführung in die psychoanalytische Krankheitslehre”
  • König, Karl (1991): „Praxis der psychoanalytischen Therapie”
  • Mitscherlich, Margarete (1994): „Die friedfertige Frau”
  • Mogge-Grotjahn, Hildegard (1999): „Einführung in die Soziologie”
  • Ramin; Gabriele (Hrsg) (1993): „Inzest und sexueller Missbrauch. Beratung und Therapie. Ein Handbuch”
  • Rutschky, Katharina; Wolff, Reinhart (Hrsg.) (1999): „Handbuch sexueller Missbrauch”
  • Wais, Matthias; Gallé, Ingrid (1996): „Der ganz alltägliche Missbrauch. Aus der Arbeit mit Opfern, Tätern und Eltern”
     
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