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Ali Ergüvenc

"Gruppe als Chance"

Gruppenstrukturen und das Verhalten von Individuen in großen Gruppen


Abschlussarbeit Sexualpädagogik Juni 2008



Inhalt






1. Vorwort

"Struktur und Wissen - als Gegengewicht zur Regression"

In meiner alltäglichen Arbeit in einem Jugendwohnheim mit 140 Jugendlichen werde ich oft mit sehr großen Gruppen konfrontiert. Sie fordern, drängen, testen, provozieren und verlangen damit nach spürbaren Grenzen und einem fassbaren Gegenüber. In Konfliktsituationen können diese Massen durchaus Angst und Unsicherheit auslösen.

Die Masse nicht grundsätzlich als feindlich zu betrachten, vielmehr ihr Wesen zu verstehen und sie für alle Beteiligten, den Einzelnen, das Team und die Gruppe selbst zu nutzen - ob dies möglich ist, möchte ich im Folgenden näher untersuchen.

Im Gegensatz zur Soziologie, die die Masse eher funktionsorientiert untersucht und ihre Bestandteile dabei nahezu seziert, werde ich die psychologischen Aspekte betrachten und mich mit Autoren wie Sigmund Freud, Otto Kernberg und Oliver König dem Individuum in der Masse nähern.

Grundsätzlich dient diese Arbeit dazu, das erworbene theoretische Wissen über die Arbeit mit Gruppen an meine Tätigkeit im Jugendwohnheim anzulehnen. Ich möchte über das Erkennen von Strukturen in meinem Handeln sicherer werden und somit einen Teil an Schwierigkeiten in der Arbeit mit Gruppen minimieren. Über das Verständnis von Gruppenstrukturen und dem Verhalten von Individuen in großen Gruppen möchte ich Abläufe besser verstehen, einschätzen und nachvollziehen können. Durch den theoretischen Unterbau erhoffe ich mir in meiner praktischen Tätigkeit eine fundierte Professionalisierung und dass ich dies als Multiplikator auch an mein Team weitergeben kann.






2. Definitionen

Für meine weiteren Überlegungen werde ich die beiden Grundelemente meiner Arbeit zunächst einmal definieren und eingrenzen. Zum einen die Masse als Strukturelement und zum Anderen die Macht als Triebkraft innerhalb und außerhalb des Systems.



2.1 Massen

Eine erste Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Masse hat vor Freud der französische Soziologe Le Bon mit seinem Buch "Psychologie der Massen" 1895 schriftlich niedergelegt.
Er sagt dort, dass eine Masse sich aus verschiedenen Individuen zusammensetzt, die so neue Eigenschaften hervorbringt.
Dabei schwindet die bewusste Persönlichkeit des Einzelnen und die Gefühle und Gedanken aller in der Gruppe werden sozusagen gleichgeschaltet.(1)

Le Bon zieht zur Definition der Masse dabei die folgenden fünf Merkmale heran:
Das Individuum befindet sich in einem hypnotischen Zustand, in dem die Rationalität oftmals ausgeschaltet ist. Ebenso ist eine Affektsteigerung mit im Spiel, die die Möglichkeit gibt, die eigenen Triebe unmittelbarer auszuleben als sonst. Die Denkhemmung, die bisweilen anzutreffen ist, befreit das Individuum von der oben genannten Ratio und von jeglichem Zweifel bis hin zu fehlendem schlechten Gewissen. Eine Art Illusionismus herrscht in der Masse und vereinfacht durch das Fortlassen der realen Fakten oft die Handlungsweise. Und letztendlich ist ein Merkmal der Masse das Verfallensein an die Herrschaft des Unbewussten. Desweiteren befindet er, dass die Masse impulsiv, wandelbar und sehr reizbar, zudem beeinflussbar, leichtgläubig und deutlich kritiklos ist. Sie ist unfähig zu einem Dauerwillen, also eher unstet und wankelmütig. Sie verträgt keinen Aufschub zwischen ihrem Begehren und der Verwirklichung des Begehrten. Dies und die Tatsache, dass die Gefühle der Masse oft sehr einfach und überschwenglich sind, zeigt die allgemeine Triebhaftigkeit. (s.o. Affektsteigerung) Die Masse hat das Gefühl der Allmacht und daher weder Zweifel noch Ungewissheit. Das Irreale hat den Vorrang vor dem Realen.(2)

Freud selbst nähert sich der Masse mit seinem Verständnis von Beziehung. Für ihn tritt der Mensch immer in Beziehung, ob zum Einzelnen oder in Gruppen zu Vielen. Er sieht den Hauptunterschied zwischen Individual- und Massenpsychologie in der Qualität und Quantität der menschlichen Verhältnisse.(3) Während in der Individualpsychologie der Einzelne Vater, Mutter, Lehrer etc. vor sich hat, die ihm sehr vertraut sind und die eine großartige Bedeutung für ihn haben, so sind dies in der Gruppe viele andere, die ihm sonst fremd und doch durch Etwas für eine gewisse Zeit mit ihm verbunden sind. In der Masse verwischen sich die individuellen Erwerbungen des Einzelnen und damit verschwindet deren Eigenart.(4) In der Menge ist jede Handlung und jedes Gefühl ansteckend und zwar in so hohem Grade, dass das Individuum sein persönliches Interesse dem Gesamtinteresse opfert.(5) Die bewusste Persönlichkeit des Einzelnen schwindet in der Masse. Er ist sich seiner Handlungen nicht mehr bewusst.(6) Man kann also sagen, dass das Wesen der Masse (Le Bon würde von der Massenseele sprechen) darin besteht, das Wesen des Einzelnen aufzulösen, manche Aspekte zu verstärken und andere zum Verschwinden zu bringen. Mit diesem "Identitätsverlust" beschäftige ich mich in Kapitel 3.1.2 ausführlicher. Wenn man der Masse gegenübertritt, tritt man damit nicht vielen Individuen sondern etwas Neuem, Einzigartigen gegenüber.

Diese Erkenntnis ist wichtig, um mit Gruppen umzugehen.

Vergangene Experimente in meinem Arbeitsfeld, wie z.B. an die "augenscheinlich Vernünftigen" innerhalb einer Gruppe zu appellieren, waren damit von Vorneherein zum Scheitern verurteilt, da die Ratio eben gänzlich unterdrückt bzw. in einem erheblichen Maße minimiert wird.



2.2 Macht

Macht und Masse sind eng miteinander verwoben.

Für Freud wird die Masse durch Macht zusammengehalten. Und er mutmaßt, dass keine größere Macht als der Eros selbst diese Fähigkeit besitzt. Zudem, so seine weiteren Überlegungen, gibt sich der Einzelne vielleicht auf, um mit den anderen im Einvernehmen zu leben, sozusagen "Ihnen zuliebe".(7) Später wird er noch genauer und hinterfragt, warum Menschen innerhalb einer Gruppe ihre narzisstischen Anteile so sehr einschränken können. Dies gelingt nur durch die libidinöse Bindung an andere Personen.(8) In der Gruppe ist dieses libidinöse Interesse allerdings zielgehemmt, sodass es selten zu einem wirklichen Ausleben kommt.(9) Deutlich wurde dies in den zahlreichen Männerbünden des Dritten Reiches, die einen sehr körperbetonten Kult und intensiven beziehungsvollen Umgang miteinander betrieben, dies als "Kameradschaft" postulierten, jedoch zugleich Homosexualität offen verfemten und verfolgten. Oliver König folgt Freuds Spuren und untersucht ebenfalls den Begriff der Macht im Hinblick auf Gruppen.

Er stellt dabei verschiedene Thesen auf:(10)
Auch er begreift Macht grundsätzlich als Merkmal sozialer Beziehungen. Da Gruppen ab einer gewissen Anzahl an Individuen unüberschaubar werden, dient die Macht zur Reduktion von Komplexität. Sie ermöglicht es sozusagen dem Einzelnen, sich durch hierarchische Strukturen besser orientieren zu können und für sich selbst an Sicherheit zu gewinnen. Macht ist infolgedessen eine Art von Ordnungsprinzip, ohne die viele Herausforderungen nicht lösbar wären, da eventuell die gemeinsame Zielrichtung aller bei einer möglichen Lösung sonst nicht zustandekommen würde. Macht kann Lenken und Leiten sowie Bündeln und Anstrengungen intensivieren. Eine der Strukturen, in denen Macht der Gruppe helfen kann, habe ich gerade schon genannt. Es ist die Hierarchisierung.

Der zweite wichtige Rahmen ist die Normierung. Diese beiden grenzensetzenden Elemente sind nach König Voraussetzungen jeder dauerhaften sozialen Gruppe.(11) Wie schon im vorangegangenen Kapitel angedeutet ist eines der Merkmale der Masse, dass das Individuum in der Gruppe durch die Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher Macht erlangt.(12) Die gerade genannten Bedingungen helfen der Gruppe mit eben jener Macht umzugehen und unter ihr zu leben.

Die Macht hat unglaublich viele Aspekte, die ich hier im Einzelnen nicht beleuchten kann. So gibt es fantasierte und reale Macht, allein dies psychoanalytisch zu betrachten, wäre zu umfangreich.(13)

Es gibt eine potentielle, nicht unmittelbar angewandte Macht und jene Macht, die aktuell zum Einsatz gebracht wird. Macht erfordert manchmal gewisse Voraussetzungen, so zum Beispiel die Freiwilligkeit der Unterordnung. Ebenso benötigt sie zuweilen Legitimation und Handlungsräume. Dies alles verdeutlicht die Vielschichtigkeit der Materie. Ich möchte mich daher begrenzen, denn wichtig für meine weiteren Betrachtungen sind im Hinblick auf die Macht vor allem zwei Aspekte: Macht ist immer mit der Begrifflichkeit der Beziehung verknüpft. Damit benötigt sie immer ein Gegenüber, wobei hier die unterschiedlichsten Ebenen berührt sein können






3. Hauptteil



3.1 Aspekte & Erscheinungsformen von Gruppen

Wie entstehen Gruppen, warum tritt man ihnen bei, und welche Vorteile bieten sie dem Einzelnen? Es gibt Menschen die dazu neigen, sich in Gruppen zu organisieren, während es anderen zutiefst zuwider ist, sich ein- oder unterzuordnen. Grundsätzlich kann man natürlich sagen, dass Gruppen dem Individuum viel anzubieten haben. Sie schaffen Sicherheit, gewähren Hilfe, sie verschaffen Bestätigung, geben klare Grenzen und Regeln vor und haben damit gerade für simplere Gemüter einen hohen Reiz. Dies ist augenscheinlich sehr formal und ich möchte daher ein wenig mehr hinter die Strukturen blicken.



3.1.1 Gruppenentstehung

Gruppen entstehen immer aus einem Bedürfnis heraus.

Dieses Bedürfnis kann ein gemeinsames Ziel sein, eine gemeinsame Problemlösung oder ein zeitlicher äußerer Zwang wie zum Beispiel die Unterbringung in einem Jugendwohnheim.

In Kapitel 2.3 habe ich Freuds Ansicht herangeführt, dass libidinöse Strukturen den Einzelnen an die Gruppe binden. Nach Freud ist Identifizierung ein tiefer menschlicher Wunsch.(14) Sie ist die ursprüngliche Form der Gefühlsbindung an ein Objekt. Sich mit etwas zu identifizieren schafft Nähe. Auf regressivem Wege ersetzt sie eine libidinöse Objektbeziehung. So kann man ohne die Gefahr des Sich-Auslieferns Etwas oder Jemandem nahe sein. Und was für Gruppenbildung immens wichtig ist - die Identifikation kann bei jeder neuen wahrgenommenen Gemeinsamkeit mit einer Person entstehen, die Nichtobjekt des Sexualtriebes ist. Die Identifikation mit anderen führt demzufolge zu einem Gefühl der Bindung. Anders gesagt kann eine Gruppe sich ein Ziel wählen und dies gemeinsam verfolgen und erstreben. Die Gruppenmitglieder haben ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres individuellen Ich-Ideals gesetzt und sich infolgedessen mit ihrem Ich miteinander identifiziert.(15) Gruppen entstehen also, indem sich mehrere Individuen ein gemeinsames Objekt suchen, sich selbst bzw. ihr Ich-Ideal unterordnen und ihre Kraft und Energie in den Dienst der Masse stellen.

Kernberg führt noch weiter aus, warum das Individuum den starken Drang verspürt, sich in Gruppen zusammenzufinden.(16) Er führt dabei Anzieu (1971) heran, nach dem das Triebbedürfnis des Einzelnen zum Verschmelzen mit anderen zu einem primitiven Ich-Ideal tendiert. Dabei entwickelt dieser drei Illusionen, aufgrund derer der Einzelne nach der Gruppe strebt

  1. Alle Individuen sind in der Gruppe gleich, egal welchen Geschlechts
  2. Die Gruppe erschafft sich selbst
  3. Die Gruppe heilt alle narzisstischen Verletzungen

Am Ende kommen unter Mithilfe eines entsprechenden Führers die Gruppenmitglieder zu einer primitiven narzisstischen Befriedigung ihrer Wünsche nach Bedeutung und Macht. Die Gruppe übernimmt damit die Rolle der Mutter, die die Bedürfnisse ihres Kindes gleichsam befriedigt und es versorgt. Innerhalb der Gruppe gibt es oft vergleichbare primitive frühkindliche Strukturen und insgesamt regrediert der Einzelne in der Gruppe, worauf ich im nächsten Kapitel näher eingehen möchte.



3.1.2 Regression & Repression

Indem ich den obigen Gedanken weiterführe, könnte man sagen, dass der Einzelne in der Gruppe zum Teil massive Entwicklungsrückschritte macht. Der Preis, den man dafür bezahlt dazuzugehören, ist die erhebliche Herabsetzung der Ich-Funktionen.(17) Zwar erfährt man ein neues Gefühl von Einigkeit und Zugehörigkeit, diese neue gemeinsame Identität nimmt aber eben einen Großteil jenes Raumes ein, den sonst die eigene Identität für sich beansprucht. Innerhalb der Großgruppe kommt es zu Aggressionen denen gegenüber, die sich ein gewisses Maß an Individualität bewahren wollen. Diejenigen, die ihre Identität zu erhalten suchen, werden am stärksten angegriffen. (18) Hier wird das Zusammenspiel von Regression und Repression am deutlichsten. Die Gefahren der Repression in Gruppen sind sehr vielfältig. Ich möchte mich auf die Regression konzentrieren, da ich als Pädagoge persönlich mehr mit ihr konfrontiert bin als mit den Repressionen innerhalb der Gruppe. Regression ist immer eng mit Aggression verknüpft. In Zweierbeziehungen oder Kleingruppen werden Aggressionen durch direkte Machtausübung kanalisiert. In unstrukturierten Gruppen treten sie oft vehement auf und treiben die einzelnen Individuen noch stärker in die Regression.(19)

Zur Frage wer in einer Gruppe regrediert, wäre zu sagen, dass es vor allem zwei Personenkreise sind:(20)
- Individuen mit starken narzisstischen Zügen, denen es an einem differenzierten autonomen Wertesystem mangelt
- Individuen, die sich in einer paranoiagenen Organisation befinden
Der erstere Typus wären also Personen, die in ihrer psychosozialen Entwicklung Defizite zu erleiden hatten. Bei dem zweiten Personenkreis handelt es sich um Individuen, die sozusagen Opfer ihrer derzeitigen Umstände geworden sind.

Paranoiagene Strukturen sind jene, die durch allgemeine Mißstände wie Ressourcenknappheit oder nicht klar definierte Hierarchiestrukturen beim Individuum Verhaltensweisen wie Neid, Misstrauen Angst und Rivalität erzeugen.(21) Damit wäre festgestellt, dass zur Regression in Gruppen zwei Faktoren bestimmend sind: die äußeren Umstände und die Präposition des Individuums. Es wäre nun natürlich viel zu einfach, die Regression losgelöst, klar abgrenzbar und nur als schlecht anzusehen. Als Kind seiner Zeit und vor allem durch Le Bons Betrachtungen, sah Freud vor allem die negativen Seiten der Regression. Heute, wo der Blick differenzierter geworden ist, treten auch die Vorteile zu Tage. So ist das, was in einer Gruppe geschieht, dass sich nämlich Ich-Grenzen vorübergehend auflösen und von einem Kollektiv ersetzt werden, nicht nur negativ zu sehen. Durch solche Gruppenprozesse können schöpferische und kultur-innovative Leistungen erbracht werden, zu denen ein einzelnes Individuum nicht fähig wäre.(22) Daher kann meine Aufgabe als Pädagoge nicht sein, die Regression grundsätzlich zu bekämpfen sondern vielmehr ihr mit Vernunft zu begegnen und vorhandene Gruppenprozesse zu erkennen, aufzugreifen und mit ihnen zum Wohle aller zu arbeiten. Das Erfassen von Gruppenstrukturen scheint mir hier der Weg der ersten Wahl zu sein.



3.1.2 Gruppenstrukturen

"Moral ist die direkte Manifestation von Gruppenprozessen in Organisationsstrukturen." (23)

Dieses Zitat von Kernberg stelle ich voran, weil es deutlich macht, was Gruppen und Institutionen gemeinsam ist und sie doch trennt: Die Werte und Normen. In meinem Arbeitsalltag prallen viele verschiedene ethische Maßstäbe aufeinander. Diejenigen meines Arbeitgebers, die der Jugendlichen (meines Klientels) , die der einzelnen Teammitglieder und letztlich auch meine eigenen. Und gerade an dieser Stelle möchte ich eine Begrifflichkeit einführen, die später noch große Bedeutung haben wird - Wertschätzung. Für mich hat sie eine doppelte Bedeutung. Als Gegenüber einer Gruppe muss ich die Gruppenstruktur erkennen können, um mich mit ihr auseinander zusetzen. Ich muss die Werte der Gruppe sozusagen einschätzen. Dagegen muss ich, damit ich mit ihr in Kontakt komme, die Gruppe aber auch wertschätzen, das heißt ihr das Gefühl geben, sich erst einmal akzeptiert zu fühlen so wie sie ist.

Aber dazu möchte ich später Näheres sagen. An dieser Stelle ist erst einmal wichtig, sich mit der Struktur der Gruppe zu beschäftigen. Immer wieder taucht als einer der Hauptnegativpunkte großer Gruppen auf, dass die Intelligenzleistung kollektiv herababgesetzt wird. Um diese Nachteile auszugleichen, bietet eine Gruppe einzigartige Bedingungen, damit das Seelenleben der Masse positiv aufgewertet wird. (24)

Erste Grundbedingung ist eine Kontinuität. Das bedeutet, dass sich bekannte Personen immer wieder begegnen und zusammenfinden, was im Wohnheim durch den regelmässigen Blockunterricht gewährleistet ist. Diese Kontinuität schafft Bindungen und ein gewisses Maß an Vertrautheit.
Zum Zweiten muss die Masse Gemeinsamkeiten aufweisen, so dass der Einzelne sich selbst wieder findet. Da die Azubis relativ alters- und interessenshomogen sind, greift auch dieser Punkt. Insbesondere hier bekommt der Aspekt der Identitätsfindung nochmals einen besonderen Stellenwert, da über adoleszent-bedeutsame Inhalte wie Musik oder Kleidungsstile die gemeinsame Identität verstärkt hervorgehoben wird.
Drittens muss die Masse rivalisieren können, das heißt sie benötigt ein Gegenüber. Dies existiert in Form der Schule und den dortigen Lehrern sowie dem Wohnheim und den Pädagogen. Hier findet jeden Tag noch einmal ein Stück pubertäre Abgrenzung statt, da sich viele Konflikte mit dem Elternhaus erneut reinszenieren: Wann muss ich ins Bett, wie lange kann ich draußen bleiben, wie laut darf die Musik sein etc.
Die vierte Bedingung ist das Vorhandensein von kulturellen Abläufen, die die Gruppe kennzeichnet. Im Alltag des Wohnheims sind dies zum Beispiel Schulzeiten, Freizeiten und die in dieser Zeit zusammen vollzogenen und gelebten Tätigkeiten. Diese gemeinsamen Handlungen schaffen Verbundenheit und prägen sowohl den Tagesablauf als auch den Charakter der Gruppe.
Fünftens muss es in der Masse grundsätzlich eine Struktur geben, in der sich der Einzelne spezialisieren und etwas leisten kann. Siehe hierzu auch den nächsten Punkt. Diese Struktur hat verschiedene Aufgaben. Hierarchien ermöglichen das Weiterkommen und die Entwicklung der eigenen Person. Sie schaffen Sicherheit, Rückzugsmöglichkeiten und die nötige Spannung, um eine Lebendigkeit in der Gruppe zu erhalten.



3.1.3 Rollen & Interaktion zwischen Individuum & Gruppe

In Kapitel 3.1.1 habe ich den Aspekt der Identifizierung angerissen, worauf ich hier noch einmal näher eingehen möchte Insbesondere die Rolle des Führers ist in Gruppen immer sehr spannend zu beobachten. Statt aber zu betrachten, wie der Führer ermittelt wird, möchte ich eher untersuchen, wie seine Stellung zum Individuum ist Der Einzelne gibt in der Gruppe sein Ich-ideal auf und tauscht es gegen das im Führer verkörperte Massenideal.(25) Wie ist es aber nun um diesen Führer beschaffen, der die Gruppe sozusagen vom Zwang der Selbstbehauptung befreit und ihre Projektionen auf sich nimmt? Hier stellt Freud eine Grundbehauptung auf, die ich auch heute noch in meiner täglichen Praxis oft nachvollziehen kann.

"Die Sonderung von Ich und Ich-ideal ist bei vielen Individuen nicht weit fortgeschritten. Dadurch wird die Wahl des Führers sehr erleichtert. Ein potienzieller Führer muss nur den Eindruck größerer Kraft und libidinöser Freiheit machen und die Eigenschaften der Individuen besonders scharf und rein vermitteln Das Gefühl der unmittelbaren Nähe und Intimität des Einzelnen in der Gruppe ist das Ergebnis der Projektion eines Ich-Ideals auf den Führer."(26)

Die Projektion des Ich-ideals auf den idealisierten Führer beseitigt damit individuelle moralische Zwänge als auch höher entwickelte Funktionen der Selbstkritik und Verantwortlichkeit.(27) Man gibt sozusagen seine Verantwortung an der Garderobe ab oder anders gesagt, man trennt sich in Teilen von seiner Identität.

Das Klientel meines Berufsalltages sind vorwiegend Jugendliche und junge Heranwachsende. Gerade in dieser Phase der Adoleszenz ist Identität ein Thema, das die jungen Menschen beschäftigt und beeinflusst. In der Pubertät hat sich der Jugendliche körperlich und emotional verändert, er befindet sich auf der Suche nach dem neuen Ich und damit in einer Identitätskrise.(28) In der Peer-group kann er nun dieses Gefühl der Entfremdung unter Kontrolle bringen. Das setzt allerdings voraus, dass er ein "normales" Wertesystem sowie weiterhin Zugang (also Beziehungen) zu vertrauten Personen wie zum Beispiel den Eltern besitzt. Der Einzelne kann so relativ gefahrlos seine Identität ein Stückweit aufgeben und gleichsam neu definieren. Problematisch wird es, wenn zum Beispiel Jugendliche mit Borderline-Persönlichkeiten in Großgruppen geraten. Hier kann es zu einer Identitätsdiffusion kommen, die sie in eine schwere Krise stürzen kann. Somit muss man neben dem Wesen der Gruppe auch immer einzelne Mitglieder in Betracht ziehen, wenn man Gruppenprozesse beobachtet und bewertet. Einen kleinen Ausschnitt an Prozessen möchte ich im folgenden Kapitel näher beleuchten.



3.1.4 Gruppendynamische Prozesse & massenpsychologische Phänomene

Es ist schwierig, in der Fachliteratur den Unterschied zwischen kleinen und großen Gruppen auszumachen. Kernberg fasst Bions und Freuds Untersuchungsergebnisse dahingehend zusammen, dass beiden Gruppenformen Folgendes gemeinsam ist: Die Entwicklung der Irrationalität, die wechselseitige Identifizierung und die Führeridealisierung. (29) Ebenso zeichnet beide eine direkte Manifestation von Gewalt aus.

In der Kleingruppe jedoch tritt die Aggression nicht ganz so deutlich zu Tage, da eine höhere Intimität herrscht. Die einzelnen Gruppenmitglieder sind sich bekannter und vertrauter. Hier ist besonders der Blickkontakt von großer Bedeutung. In Großgruppen können die einzelnen Mitglieder eben diesen Blickkontakt nicht mehr aufrechterhalten. Infolgedessen kann der Einzelne das Gefühl der Identität völlig verlieren und sich sozusagen in der Großgruppe auflösen. Eine solche Identitätsdiffusion ist ein allgemeines Merkmal von Großgruppenphänomen, wie bereits im vorangegangenen Kapitel beschrieben.

Ein wesentlicher Prozess in der Gruppe ist auch die Affektsteigerung. (30) Der Prozess, der dabei abläuft lässt sich ungefähr so beschreiben: Die Gruppe folgt ihren Wünschen, wobei das Individuum seine Kritikfähigkeit unterdrückt und sich anstecken lässt. Dieser Vorgang wiederum erhöht die Erregung der anderen. So kommt es zu einer gegenseitigen Induktion. Dieses Grundschema ist ein elementarer Antrieb bei Gruppenprozessen. Differenziert betrachtet gibt es weitere Vorgänge, die in der Literatur gut beschrieben sind und die ich nun anbringen möchte.

Kernberg unterscheidet nach Bion drei verschiedene Regressionsprozesse:(31) (32) Die Abhängigkeitsgruppe: In dieser Situation ist der Führer allmächtig. Die Gruppe ordnet sich ihm unter und fühlt sich minderwertig. Sie idealisiert den Führer, setzt ihn aber auch gleichzeitig unter Druck, da sie ihn sofort abwertet, wenn er ihren Vorstellungen nicht entspricht. Grundprinzip dieser Gruppe ist der Wunsch nach Pflege, Versorgung und Abhängigkeit zugleich. Die Führung übernehmen hier oft und gerne Personen mit narzisstischen Eigenschaften, weil diese Rolle ihren Präferenzen entspricht.

Während in der Abhängigkeitsgruppe das Klientel sehr homogen ist, so ist es im nächsten Fall, der "Kampf-Flucht-Gruppe" eher gespalten. Diese Gruppe schwankt zwischen dem Wunsch, den Führer zu kontrollieren und von ihm kontrolliert zu werden. Es bilden sich oft Untergruppen, die einander misstrauen und die untereinander opponieren. Insgesamt ist in dieser Art von Gruppen ein hohes Aggressionspotenzial und wenig Konstanz zu finden. Angeführt werden sie zumeist von Personen mit stark paranoiden Eigenschaften

Die dritte Art von Gruppensituation ist die Paarbildungsgruppe. Hier lässt sich die Gruppe auf ein Paar aus ihrer Mitte ein, von dem sie sich erhofft, dass durch deren Vorbild Sicherheit und Kontinuität geschaffen wird, die sich positiv auf die Gruppe auswirken.

Und immer ist die Macht ein wesentlicher Bestandteil dieser Systeme, sodass nach der grundlegenden Charakterisierung von gruppendynamischen Prozessen hier die Macht als Bindeglied zwischen den Individuen fungiert. Ich komme wieder darauf zurück, weil Gruppe und Macht die beiden Begrifflichkeiten sind, mit denen ich mich in dieser Arbeit auseinandersetze. So ist der für mich interessanteste gruppendynamische Prozess das Ausleben von Machtbeziehungen. Denn wie Freud feststellte, hält Macht die Masse zusammen.(33) Daher beschäftige ich mich im zweiten Teil dieses Kapitels mit den Machtbeziehungen, die gruppendynamische Prozesse bedingen und sie ins Rollen bringen.

Der erste wichtige Aspekt ist die Gewalt.(34) Gewalt geht vom Volke aus, Gewalt schafft Widerstand, Gewalt kann kreativ sein. In Gruppen ist Gewalt ein elementarer Steuerungsprozess und Regulator. Unzufriedenheit, Missgunst und Neid kanalisieren sich oft in der Gewalt, wenn soziale Regelungen nicht mehr greifen.

Ein weiterer wichtiger Faktor in der Gruppe ist der Gehorsam, bzw. die Konformität. Während die Konformität auf die Akzeptanz einer Gruppenmeinung ausgelegt ist, zielt der Begriff des Gehorsams in Richtung der Unterwürfigkeit auf eine Person bezogen.(35) Beide dienen auch als Regulatoren innerhalb des Gefüges der Gruppe. In Kapitel 2.2 habe ich die Grundstrukturen aufgegriffen, die einer Gruppe nützlich sein können - Hierarchisierung und Normierung. An dieses Muster angelehnt wäre der Gehorsam Teil der Hierarchisierung und die Konformität Teil der Normierung.

Das dritte Spannungsfeld von Gruppen und damit ein gruppendynamischer Prozess ist die Kluft zwischen Konkurrenz und Kooperation. Kooperation ist eng verknüpft mit der weiter oben beschriebenen Identitätsaufgabe, denn das Individuum gibt seiner sozialen Identität bzw. Orientierung den Vorrang vor seiner persönlichen Identität.(36) Konkurrenz hingegen stellt die eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund und hegt die Hoffnung, die eigene Position in der Gesamtstruktur zu verbessern. Beide Elemente sich wichtig für das Vorankommen der Gruppe und des Einzelnen, da sie miteinander verknüpft sind.(37) Wenn eine Gruppe nicht kooperiert, kann sie nicht mit anderen Gruppen oder Systemen konkurrieren. Und oftmals kommt es erst durch eine äußere Konkurrenzsituation zu einer internen Kooperation der Gruppenmitglieder. Es gibt viele weitere dynamische Prozesse, die beachtenswert sind, doch für jenen Ausschnitt, den ich bearbeite, seien diese als Wichtigste genannt.



3.2 Methoden der Intervention

In der Beziehungsarbeit, und das ist sozialpädagogisches Handeln immer, kommt es auch stets auf Wertschätzung an. Das Gegenüber muss in Kontakt treten und sich respektiert und beachtet fühlen. Um Macht sinnvoll einzusetzen, muss man sich ihrer bewusst sein bzw. machen. Daher beleuchte ich im Folgenden einige Aspekte, über die man sich im Klaren sein sollte, wenn man dem Einzelnen oder der Gruppe gegenübertritt.



3.2.1 Formen der Macht

König geht davon aus, dass alle sozialen Beziehungen von Machtfaktoren mitbestimmt sind (38)
Diese Machtfaktoren beruhen auch immer auf Ressourcen und Grundlagen. Diese sind im Einzelnen Zwang, Belohnung, Legitimation, Identifikation, Sachkenntnis, Information und situative Kontrolle.(39)
Zwang wird im Wohnheim durch die physische Kontrolle ausgeübt. Es gibt festgelegte Zeiten der Hausruhe, der Nachtruhe und der Zeiten, wo sich Azubis auf den Zimmer zu befinden haben. Dieser Zwang erfordert einen Zwangausübenden, einen Kontrolleur, d.h. es kommt unmittelbar zu einer Auseinandersetzung mit der Gruppe. Die Strafe bzw. deren Androhung lässt alle Beteiligten zumeist kooperieren.
Belohnung kann entweder die Weglassung von Strafe sein, sodass man z.B. bei einem Regelverstoß "ein Auge zukneift" oder das Vergeben von materiellen oder auch ideellen Vergünstigungen. So kann die Gewährung eines längeren Ausganges eine Belohnung sein, wenn sich jemand bewährt hat. Derjenige, der die Belohnung bekommen hat, kann sich nun verpflichtet fühlen, indem er den erworbenen guten Ruf nicht gefährdet. Die Macht hat hier unter Umständen auf lange Sicht hin erfolgreich gewirkt.
Legitimation ist eine, von außen gewährte Form von Macht, indem beispielsweise im Arbeitsvertrag gewisse Privilegien festgelegt sind und Aufgaben mit der entsprechenden Amtsautorität unterstützt werden. Im Wohnheim ist Legitimation durch Schlüsselgewalt gekennzeichnet. Der Betreuer hat den Hauptschlüssel, er besitzt also unbegrenzten Zugang. Er musste sich aber, um dem Missbrauch entgegenzuwirken, erst durch eine entsprechende Ausbildung hierzu legitimieren.
Identifizierung ist ein sehr gefährliches Feld, denn es geht um Annäherung und Abgrenzung zugleich. Als Pädagoge sollte man in vielen Bereichen Vorbildcharakter haben, um Identifizierungsfläche zu bilden. Jedoch muss der Jugendliche auch genug Möglichkeiten haben, die ihm anbegotenen Normen und Werte zu überprüfen, denn bloße, unkritische Identifizierung kann zu einem eigenen Identitätsverlust, einer Identitätsdiffusion führen.
Wer das Wissen hat, hat die Macht. Sachkenntnis ist ein weiterer Schlüssel zum Erfolg. Aber wie auch die Identifizierung ist sie ein gefährliches Werkzeug. Mit Wertschätzung und Vernunft eingesetzt kann sie helfen, das Gegenüber zu erreichen und ins Gespräch zu kommen. Um ihrer selbst Willen ins Spiel gebracht, wirkt die Sachkenntnis arrogant, abstoßend und ruft eher zur Rebellion und zu weiterem unreflektierten Hinterfragen auf.
Unter Information versteht König eher den Weg der Information, als den Inhalt selbst, der eher mit der Sachkenntnis abgedeckt ist. Macht kann sein, jemanden zu spät zu informieren, ihn ins offene Messer laufen zu lassen. Man kann andere fördern, indem man sie bevorzugt behandelt. Dem Einen sagt man dies, dem Anderen sagt man das. Man kann Menschen gegeneinander ausspielen. Information, gerade in unserer heutigen Gesellschaft ist ein sehr starker Machtfaktor.
Mit der situativen Kontrolle schließlich wird der Rahmen des Zusammenlebens bestimmt. Es fängt mit einfachen Dingen an wie z.B. der Gestaltung des Büros bei Konfliktgesprächen. Sitzt der "Delinquent" dem Pädagogen gegenüber, ist dazwischen ein Tisch, ist sein Stuhl in die Ecke gedrängt, sitzen zwischen ihm und der Tür gleichermaßen fluchtwegversperrend weitere Betreuer? Vom Kleinen ins Große übertragen bedeutet dies: Wie ist das Raumkonzept des Hauses, welchen Charakter hat es, welcher Geist wird hier zelebriert? Bereits mit der Gestaltung des Hauses kann man sozusagen Macht "versprühen".

Neben all diesen Faktoren, die mal stärker mal schwächer ausgeprägt sind, ist grundsätzlich zur Macht auch anzumerken, dass sie nie starr ist. Es sei denn, sie ist institutionalisiert und somit grundlegend legitimiert. Und selbst dann gibt es auch hin und wieder ein Aufbegehren gegen sie, denn es existiert stets ein Gefälle von wenigen Mächtigen und vieler, über die Macht ausgeübt wird.(40) Durch dieses Spannungsfeld bleiben Gruppen aber auch in Bewegung und können so kreative Prozesse hervorbringen. Grundsätzlich strebt die Macht aber nach Verfestigung.(41) Die sorgsame und nötige Balance zwischen Bestimmen und Zulassen zu finden, obliegt hier wie da dem Führer der Gruppe und den Entscheidungsträgern intern und extern.



3.2.2 Führen & Leiten

Weil Leiten einen großen Raum in meinem beruflichen Alltag darstellt, betrachte ich Führung in diesem Kapitel etwas ausführlicher. Nach Oliver König spricht man von Führung, wenn sich innerhalb einer Gruppe Macht auf eine Person konzentriert. Ist es hingegen so, dass eine Gruppenmehrheit die Macht über andere erlangt, so spricht man von Konformität.(42)

Wie begegnet man nun einer Gruppe in einer adäquaten Art und Weise?
Es geht hierbei natürlich nicht um ein allgemein gültiges Rezept, was auch gar nicht existiert, jedoch möchte ich mich einigen Ansichten dazu nähern und ein weiteres Zitat von Freud anführen

"Selbst zu allen Extremen geneigt, wird die Masse auch nur durch übermäßige Reize erregt. Wer auf sie wirken will bedarf keiner logischen Abmessung seiner Argumente, er muss in den kräftigsten Bilder malen übertreiben und immer das gleiche wiederholen Sie respektiert Kraft und lässt sich von der Güte, die für sie nur eine Art von Schwäche bedeutet nur mäßig beeinflussen." (43)

Freuds Ansicht ist in ihrer Härte und Schärfe natürlich auch als Kind ihrer Zeit zu sehen. Die darin enthaltene Kernaussage empfinde ich als eine Facette, die ich mit anderen Betrachtungsweisen kombinieren und als durchführbar betrachten würde Wichtig um einer Gruppe professionell gegenüberzutreten ist die eigene Grundhaltung.

Ein wesentlicher Bestandteil ist dabei die Empathie. (44) Es ist im Alltag sehr schwierig und anstrengend, empathisch zu sein, da man sich zu jeder Zeit seines Standpunktes bewusst sein muss. Empathie bedeutet Mitgefühl ohne Grenzverlust, das heißt dass ich mitleiden kann, ohne meine Professionalität zu verlieren. Weiter bedeutet es, dass ich aggressive Gefühle zulasse, wenn sie mein Gegenüber in der jeweiligen Situation weiterbringen. Grundsätzlich gilt es hier darauf zu achten nicht in das Helfersyndrom zu verfallen. Gesunde Empathie bedeutet immer, sich auch abgrenzen zu können und sich der möglichen Gegenübertragungen bewusst zu sein.

Ein weiterer Aspekt ist das Interesse am Gegenüber.
Was Oliver König "forschende Einstellung" nennt, ist meiner Ansicht nach nichts anderes als dem Gegenüber Wertschätzung zu zeigen. Grundsätzlich bin ich damit an einer anderen Meinung interessiert. Ich muss sie nicht teilen, kann sie jedoch erst einmal annehmen und mit meiner eigenen Moral vergleichen. Durch dieses Interesse lasse ich Kommunikation zu und schaffe die Grundbedingungen für einen Austausch mit der Gruppe. Natürlich ist dies leichter gesagt als getan, denn extreme ideologische Ansichten wie zum Beispiel bei faschistisch-orientierten Jugendlichen werden durch ihren Dogmatismus stark erschwert. Wenn ich als Pädagoge jedoch eine grundsätzliche Bereitschaft zum Dialog zeige, so ist oftmals die erste Hürde zum gegenseitigen Verständnis genommen.

Ebenso wichtig wie die beiden vorangegangenen ist auch der dritte Aspekt, die Geduld.
Eine Auseinandersetzung mit Gruppen ist immer prozesshaft, das heißt die Auseinandersetzung gerade mit Großgruppen benötigt viele einzelne Konfrontationen, die erst in ihrer Entwicklung zu einem möglichen Ziel führen.(45) Es ist oft der langwierige Kommunikationsprozess an sich, der zum Ziel führt, indem man sich gerade jene Zeit nimmt, die es braucht. Hier kommt ein weiterer Faktor zum Tragen, die Bescheidenheit.

Auch wenn man im Dialog mit einer Gruppe nach langjähriger Berufstätigkeit um den richtigen Lösungsansatz weiß, so ist es doch möglich den Verstehens- und Handlungsvorsprung nicht zu nutzen, sondern dem Gegenüber die Möglichkeit zu geben, sich durch eigene Bemühungen weiterzuentwickeln. All diese Aspekte sind meiner Meinung nach in die Fähigkeit zur Selbstreflexivität einzubetten. Durch die eigene Überprüfung und die ständige Kontrolle von Übertragung und Gegenübertragung kann ich Entwicklungen zulassen. Es sei darauf verwiesen, dass mit Reflexivität nicht Handlungsabstinenz gemeint ist. (46) Vielmehr gebe ich in der Auseinandersetzung mit der Gruppe Raum für einen allgemeinen wertschätzenden Dialog, ohne dem Gegenüber das Gefühl zu vermitteln, bereits alles zu wissen. Das Beschriebene ist natürlich der Idealfall und gerade in Konfliktsituationen kommt es selbstverständlich vor, dass man die Grenzen des Gegenübers überschreitet, aus seiner Rolle herausfällt und so eine Kommunikation auf der Basis von Vernunft verhindert. Sich die obigen Aspekte aber bewusst zu machen hilft, sich selbst zu stärken und allgemein klarer und sicherer zu werden.



3.2.3 Teamorientierte Interaktion

Wenn man als Team einer Großgruppe gegenübersteht, dann muss man sich immer fragen welche Wirkung man erzielt, beziehungsweise welches Bild man im Gegenüber erzeugt.

In einem Jugendwohnheim besteht die Zielgruppe zumeist aus Jugendlichen und jungen Heranwachsenden, die intensiv unter stark sexuellen Spannungen und Konflikten leben. Daher muss man immer mit dem Vorhandensein eines rebellischen Gefühls des Nichteinverstandenseins mit den herrschenden Regelkatalog und zugleich mannigfaltigen polymorph-perversen Phantasien rechnen.(47) Entweder wird man als überstreng und verklemmt (puritanisch) angesehen oder es werden den Pädagogen sexuelle Übergriffsphantasien unterstellt. Dazwischen ist alles möglich und wird von der Masse gerüchteweise behauptet.

In diesem Spannungsfeld muss das Team darauf achten, die Projektionen denen es ausgesetzt ist , als solche zu erkennen und ihnen professionell zu begegnen. Grundsätzlich kollidieren mit Team und Klientengruppen zwei geschlossene Systeme mit unterschiedlichen ethischen Vorstellungen, Absichten und Bedürfnissen aufeinander. Daher muss die Teamleitung besonderes Augenmerk auf die eigene Rolle verwenden und das Team für dessen Arbeit stützen. Hierbei entlastet Kernberg die Person des Teamleiters zum Teil, indem er sagt, dass die Effektivität der Organisationsführung nur zum Teil von ihm abhängt.

Der weit größere Anteil kommt der äußeren Struktur, dem Rahmen zu. So muss genug qualifiziertes Personal zur Verfügung stehen und die ihnen zugedachte Aufgabe muss zu bewältigen sein Es müssen ganz klar definierte Zielsetzungen existieren und Kompetenzen müssen deutlich an die einzelnen Mitarbeiter übergeben worden sein.(48) Ist dies nicht der Fall, so sinkt die Teammoral und die Mitarbeiter regredieren, was natürlich wieder Auswirkungen auf die Klienten hat. Das Team und die Klientenruppen stehen in direkter Beziehung und es ist auch im Team wichtig stets darauf zu achten, welche Übertragungen und Gegenübertragungen ablaufen, denn es ist durchaus möglich, dass sich problematische Beziehungen im Team bei den Klienten reinszenieren und umgekehrt. Um hier erfolgreich hinschauen und reflektieren zu können, darf man die Realität nicht aus den Augen verlieren. Wenn ein Team sich mit sich selber auseinander setzt, so ist es eine Illusion zu glauben, dass jeder im Team das gleiche Ziel hat und es keine Konflikte untereinander gibt.(49) Hier muss man durch verläßliche Rahmenbedingungen wie regelmäßige Dienstbesprechungen, Mitarbeitergespräche, Fortbildungen und Supervision den Blick öffnen und den Mut aufbringen auch unliebsame Themen aufzugreifen und professionell aufzulösen. Gruppenprozesse lassen sich durch starre gesellschaftliche Strukturierung zum Teil beherrschen bzw. auffangen. Bürokratisierung, Ritualisierung und sorgfältig organisierte Aufgabenerfüllung sind hierbei unterschiedliche Verfahrensweisen.(50) Ein Team, das sich sicher und gut behandelt fühlt und seiner Kompetenzen bewusst ist, kann seine Energie positiver einbringen als jenes, in dem zu viele unaufgearbeitete und unausgesprochene Spannungen herrschen. Hinzu kommt, dass die Aggression positiverweise auf den Prozess der Entscheidungsfindung gelenkt wird, wenn sich in einer arbeitsorientierten Organisation gut strukturierte Gruppenprozesse entwickeln.(51) Und ein gut aufgestelltes Team kann in der Konfrontation mit der Großgruppe jene Geschlossenheit aufweisen, die das Gegenüber benötigt.






4. Schlusswort

Grundsätzlich geht es, wenn man sich mit großen massenpsychologischen Phänomenen beschäftigt, um Konfrontation - im guten wie auch im schlechten Sinne. Es geht um die Gegenüberstellung der Macht des Leiters einer Einrichtung und der des Wortführers der Gruppe.

Es geht um das Aneinanderreiben der Anschauungen und der Ideale von Klienten und Betreuern. Dabei taucht immer wieder der Begriff der Macht auf. Diese Macht positiv einzusetzen und sie vom negativen Beigeschmack von Willkür und Ungerechtigkeit zu befreien, scheint mir der Schlüssel in meinem Arbeitsfeld zu sein. Ich muss ein machtvoller Gegenpol sein, um der Gruppe die Chance zu geben, sich auseinanderzusetzen und sich somit weiter zu entwickeln. Ich trete in Beziehung, zu Einzelnen, zu Großgruppen und biete so das notwendige Gegenüber für ein gesundes Miteinander. Ich habe die Ausbildung unter dem Gesichtspunkt "Leiten ohne zu leiden" begonnen und lange nach dem roten Faden für mich gesucht. Durch die Auseinandersetzung mit dem Thema "Massenpsychologie" bin ich schliesslich zu einer Professionalisierung gekommen, die mir im Alltag hilft leichter zu handeln. Je sicherer ich in meiner Rolle bin und entsprechend integer auftrete, desto leichter mache ich es meinem Gegenüber, mit mir Kontakt zu treten Bin ich unsicher, verunsichere ich auch meine Klienten. Beim Lesen der aufgeführten Bücher und beim Suchen des roten Fadens ist immer wieder ein Begriff aufgetaucht, der mich unbewusst ansprang - die Identität. Die Identität scheint mir der Sockel zu sein, der genügend Standfestigkeit gibt, um der Gruppe gegenüberzutreten. Indem ich weiß, wer ich bin und warum ich es bin, kann ich mich mit dem Anderen auseinandersetzen ohne Angst zu haben, mich zu verlieren.

Ich möchte diese Arbeit mit einem Satz von Kernberg beenden, der sozusagen der Baustein inmitten all des Neuen für mich ist: "Die sorgfältige Analyse und Festlegung von Organisationsrichtlinien in allen Konfliktbereichen, die Führungsfunktionen potentiell beeinträchtigen, kann den Leiter in Zeiten akuter Regression schützen, in denen die narzißtische und die paranoide Dimension aktiviert werden und seine innere Freiheit, sich von seinen eigenen ethischen Systemen leiten zu lassen, bedrohen."(52)

Meine Affirmation ist daher: Ich glaube an das, was ich tue und ich bin auf einem guten Weg.






5. Literatur

- Sigmund Freud, Massenpsychiologie und Ich-analyse, Fischer Taschenbuch 2005
- Gustave LeBon, Psychologie der Massen, Online-version, http://www.textlog.de/le-bon-psychologie.html
- Otto F. Kernberg, Innere Welt und äußere Realität, Verlag internationale Psychoanalyse, 1988
- Otto F. Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Klett-Cotta, 2000
- Oliver König, Macht in Gruppen, J. Pfeiffer Verlag München, 1996






Erwähnte Bezüge

(1) Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, Kapitel 1, Die Massenseele - Was ist eine Masse
(2) Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse , Seite 40ff
(3) ebenda, Seite 33
(4) ebenda, Seite 37
(5) ebenda, Seite 38
(6) ebenda, Seite 39
(7) Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse , Seite 55ff
(8) ebenda , Seite 65
(9) ebenda , Seite 77
(10) Oliver König, Macht in Gruppen, Seite 19
(11) ebenda , Seite 21
(12) Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse , Seite 37
(13) Oliver König, Macht in Gruppen, Seite 34ff
(14) Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse , Seite 69
(15) Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse , Seite 78
(16) Otto Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Seite 19
(17) Otto Kernberg, Innere Welt und äußere Realität, Seite 240
(18) Otto Kernberg, Innere Welt und äußere Realität, Seite 245
(19) Otto Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Seite 308
(20) Otto Kernberg, Innere Welt und äußere Realität, Seite 231
(21) Otto Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Seite 145ff
(22) Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse , Seite 15
(23) Otto Kernberg, Innere Welt und äußere Realität, Seite 239
(24) Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse , Seite 49ff
(25) Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse , Seite 91
(26) ebenda, Seite 91
(27) Otto Kernberg, Innere Welt und äußere Realität, Seite 240
(28) Otto Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Seite 38ff
(29) Otto Kernberg, Innere Welt und äußere Realität, Seite 243
(30) Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse , Seite 48ff
(31) Otto Kernberg, Innere Welt und äußere Realität, Seite 241
(32) Otto Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Seite 17ff
(33) Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse , Seite 55
(34) Oliver König, Macht in Gruppen, Seite 48
(35) ebenda, Seite 69
(36) ebenda, Seite 77
(37) Oliver König, Macht in Gruppen, Seite 75ff
(38) ebenda, Seite 26
(39) ebenda, Seite 27ff
(40) Oliver König, Macht in Gruppen, Seite 38
(41) ebenda, Seite 41
(42) Oliver König, Macht in Gruppen, Seite 21
(43) Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse , Seite 40ff
(44) Oliver König, Macht in Gruppen, Seite 156
(45) Oliver König, Macht in Gruppen, Seite 160
(46) ebenda, Seite 157
(47) Otto Kernberg, Innere Welt und äußere Realität, Seite 251
(48) Otto Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Seite 67
(49) Otto Kernberg, Innere Welt und äußere Realität, Seite 260
(50) ebenda, Seite 247
(51) ebenda, Seite 247
(52) Otto Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Seite 144

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