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Isolde Ward

Aggression und Sexualität

Abschlussarbeit für die Weiterbildung zur Sexualpädagogin bei AZ Dortmund





Inhaltsverzeichnis






1. Einleitung

Meine langjährigen ehrenamtlichen Arbeit bei der Telefonseelsorge Dortmund, meine Erfahrungen in Fortbildungsgruppen, Supervisionsgruppen und auch meine Mitarbeit in Selbsthilfegruppen, aber ganz besonders meine Ausbildungszeit zur Sexualpädagogin bei AP Dortmund hat mir klar gemacht, dass nicht nur Sexualität vielfach ein problematisches Thema ist, sondern auch Aggressivität.

Aggressionen können nicht losgelöst von der Sexualität gesehen werden, was sicher eine Erklärung für meine Feststellung ist.

Obwohl Aggression ein Phänomen unseres Alltags ist, werden Aggression häufig nicht als Teil des eigenen Selbst angenommen. Agressionen werden abgespalten oder verdrängt und fehlen dann als wichtiger Bestandteil, um sich selbst zu definieren.

AP Dortmund lehnt sich mit ihrem Aggressionsmodell an den Psychoanalytiker Stavros Menzos an, der davon ausgeht, dass es neben dem eigenen Sexualtrieb keinen eigenständigen Aggressionstrieb gibt. Zudem sind Aggressionen (und auch Gewalt) immer eng verknüpft mit Frustrationserlebnissen.

"Es ist nicht die Aggression die Konflikte auslöst, sondern es sind die Konflikte, die Aggressivität auslösen." (Norbert Elias)

In diesem Konzept möchte ich Aggressionen genauer untersuchen.




2. Analyse des Menschen

Menschliches Verhalten ist kulturabhängig. Verhaltensweisen, die in einem Kulturkreis als normal gelten, können in einem anderen Kulturkreis als pathologisch bezeichnet werden. Die Frage nach Normalität und Pathologie eines Verhaltens, ist nicht immer eindeutig zu beantworten. Entscheidend ist, ob ein Verhalten Leidensdruck verursacht und somit behandlungsbedürftig wird oder nicht.
Die Phase extremer Abhängigkeit in den ersten Lebensjahren scheint es zu sein, auf der die ungeheure Prägbarkeit von Menschen beruht.
Schon der Säugling entwickelt eine überaus starke psychische Beziehung zu den ersten Menschen, die für ihn sorgen. Die Bindungsforschung spricht in diesem Zusammenhang von der ungeheuren "emotionalen Macht" dieser frühen Liebesbeziehung.
In der Kindheit entwickelt sich das "Es" (Triebhafte) das "Ich" (denkende, Handelnde) und das "Über-Ich"(moralische ,Gewissen). Das " Ich" steht zwischen dem "Es" und dem "Über-Ich" als Vermittler. Was das Triebhafte (Es) durchsetzen möchte und das (moralische, Gewissen ) "Über-Ich" verbietet, wird vom "Ich" kontrolliert.
Bei vielen Menschen entwickelt sich aus verschiedenen Gründen aber eine Ich-Schwäche, so dass nicht ausreichend vermittelt werden kann. Folgen sind verschiedene psychische Störungen. Oft fehlt auch die Integration des "Über-Ich". Die Vermittlungsfunktion des "Ich" kann dann vollständig gestört sein. Das Triebhafte (Es) macht was es will, so wird z.B. sexuelle Gewalt erklärbar.

Das "Es", das "Ich" und das "Über-Ich" müssen integriert sein. Nur ein stark entwickeltes "Ich", kann zwischen "Es" und "Über-Ich" vermitteln. Ein kleines Kind idealisiert (infolge mangelnder Lebenserfahrung) die eigenen Eltern, die dadurch die Über-Ich Bildung maßgeblich mitbeeinflussen.
Der innige Körperkontakt mit der Mutter, die zärtliche und liebevolle Beziehung, die Mutter und Säugling zueinander haben, erlebt der Säugling als lustvoll. Es entwickeln sich sexuelle Sehnsüchte und der Säugling verinnerlicht erregende und befriedigende symbiotische Erfahrungen.Aber auch aggressive Affekte sind Komponenten der sexuellen Erregung ,die nach Verschmelzung, Penetration und penetriert werden streben und im Dienste der Liebe stehen.

Als Ursprung des erotischen Begehrens sind die Fluktuationen der sexuellen Erregung in der präödipalen Mutter-Kind-Beziehung zu betrachten, dass seinen Höhepunkt jedoch erst in der ödipalen Entwicklungsphase erreicht. In der ödipalen Entwicklung wird eine starke Ambivalenz und Rivalität zum gleichgeschlechtlichen Elternteil aktiviert, während auf den gegengeschlechtlichen Elternteil gerichtete genitale Impulse Vorrang gewinnen. Dies beschreibt den positiven Ödipuskomplex, indem sich unbewusste Beseitigungswünsche gegen den gleichgeschlechtlichen Elternteil richten, um den gegengeschlechtlichen Elternteil für sich als Partner zu gewinnen.




2.1. Die verschiedenen Persönlichkeitsstrukturen und ihre Abwehrmechanismen

Um Menschen zu verstehen, ist es unerlässlich "Typen" zu bilden. In der Psychoanalyse wurden verschiedene Charaktertypen bzw. Charakterstrukturen erarbeitet, die typische Merkmale des menschlichen Erlebens und Verhaltens enthalten. Dabei treten die Charakterstrukturen beim einzelnen Menschen nicht unbedingt in ihrer Reinform auf, sondern häufig sind auch Mischformen anzutreffen. In Anlehnung an Karl König soll zwischen schizioden, depressiven, zwanghaften, phobischen, hyterischen und narzistischen Charakterstrukturen unterschieden werden. In den Persönlichkeitsstrukturen werden menschliche Grundkonflikte verarbeitet. Anschließend sollen die einzelnen Persönlichkeitstypen mit ihren abwehrmechanismen in aller Kürze dargestellt werden.

Für die schizoide Struktur sind Projektion, Vermeidung und Idealisierung typisch. Schizoide Menschen verarbeiten den Konflikt, einerseits den Wunsch nach Individualität aufzugeben, andererseits aber als Individuum erhalten bleiben zu wollen.

Bei der depressiven Struktur finden sich Introjektion, Selbstentwertung (dann kann von einem selbst nicht viel verlangt werden ) und Idealisierung der Objekte (dann kann von den Objekten viel erwartet werden). Gefühle die verboten sind oder zu stark wären oder einen zu unüberlegten Handeln bringen könnten, kann man in anderen erzeugen und sie dann mitgenießen bzw. abwerten (sog. Altruistische Abtretung). In der depressiven Struktur wird der Konflikt zwischen dem Wunsch nach Versorgung durch andere und dem Wunsch nach Selbstversorgung ausagiert.

Typisch für die zwanghafte Struktur sind Reaktionsbildung, Verschiebung (aufs Kleinste), Projektion, Isolierung vom Affekt, Isolierung aus dem Zusammenhang, Verneinung und Ungeschehenmachen. Bei dieser Charakterstruktur besteht der Konflikt zwischen dem Wusch, eigene Triebwünsche ungeregelt und durch niemanden beeinflusst durchzusetzen, und dem Wunsch, jeden eigenen Triebwunsch so zu kontrollieren und zu beherrschen. Es soll nichts passieren, was der Zwanghafte selbst oder seine Umgebung aus moralischen Gründen ablehnen könnte.

Verschiebung des Angstmachenden von Menschen auf Tiere oder unbelebte Gegenstände, sowie Vermeidung der Angstauslöser sind typische Verhaltensweisen der phobischen Struktur.. Bei der phobischen Struktur besteht der Konflikt zwischen dem Wunsch, die eigenen Triebwünsche auszuleben – wie bei der zwanghaften Struktur-, und dem Wunsch, sozial akzeptiert zu sein,

Menschen mit hysterischer Struktur neigen zu Verdrängung, Leugnung ,Bagatellisierung als Sonderform der Leugnung.

Die narzistische Struktur erzeugt ein Gefühl von anderen unabhängig zu sein, durch eine defensive Idealisierung des Selbst mit gleichzeitiger Abwertung der Objekte. Die Strutkur beruht auf dem Konflikt zwischen dem Wunsch, anderen Menschen wichtig zu sein, und dem Wunsch, von ihnen unabhängig zu sein.

Verschiebung, Projektion, Verdrängung, Vermeidung usw. sind Abwehrmechanismen. Ein Ich, dass Abwehrmechanismen einsetzt, zahlt den Preis des (teilweisen) Realitätsverlustes. Wenn das Ich die Abwehrmechanismen aber nicht einsetzt, könnte es noch schlechter funktionieren. Dann kann das Ich zum Beispiel von Angst, Schamgefühlen und Schuldgefühlen überschwemmt werden. Nichtabgewehrte Affekte, die es sonst schwer aushalten könnte, können zu Handlungen veranlassen, die eine Gefahr für die ganze Person darstellen können.




3. Entstehung der Aggression

Ich lehne mich in meiner Darstellung an Stavros Menzos an. Demnach gibt es keinen eigenen Aggressionstrieb, sondern Aggression ist Bestandteil von Sexualität. Aggression kann also nicht losgelöst von Sexualität betrachtet werden, gleichzeitig ist sie Voraussetzung für Sexualität.
Die Aggressivität ist die Triebenergie der Sexualität. Sexualität als Trieb hat einen Sinn – nämlich Fortpflanzung, während Aggression für sich gesehen keinen Sinn und Zweck hat.

Der Psychoanalytiker Sigmund Freud ist davon ausgegangen, dass es neben der Libido auch einen Todestrieb gib. Das Todestriebkonzept von Freud ist aber nicht "die" Theorie der Psychoanalyse geworden. Freud selbst hat seine Trieblehre einmal als "Mythologie" bezeichnet.

Andere Theorien, wie z.B. die Frustrations-Aggressionstheorie (die jede Aggression nur als Reaktion auf die Frustration begreift) und die behavioristische Annahme ( wonach Aggression sich operational durch den aggressiv erzielten Vorteil verstärkt und somit gelernt wurde) sind nicht in der Lage, Phänomene wie z.B. Zerstörungswut und noch weniger masochistische/ selbstzerstörerische Verhaltenweisen zu erklären.

Der Psychoanalytiker Stravos Menzos sieht eine Ursache für Aggressionen in dem Konflikt zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen des Menschen: Einmal geht es um den Wunsch nach Kontakt, Bindung und Zärtlichkeit. Andererseits haben Menschen das Bedürfnis nach Selbständigkeit, Selbstidentität usw.. .Diese Bedürfnisse können unter günstigen Bedingungen gleichzeitig befriedigt werden. Sehr oft geraten sie aber auch innerhalb einer normalen Entwicklung und ziemlich früh miteinander in Konflikt. Wenn es nicht gelingt diesen Konflikt im Sinne eines "sowohl – als - auch" (Bindung und Freiheit) zu lösen, wird das Kind zwangsläufig Zuflucht zu der Lösung "entweder – oder" finden. Die Folge ist totale Anpassung oder Opposition des Kindes. Es wird entweder auf Autonomie oder auf Liebe verzichten müssen. So oder so – es entsteht Frustration. Das ist für Menzos die gesuchte innere Aggressionsquelle, ohne Annahme eines energetischen konzipierten Triebes.

Aggressionen sind also eng mit Frustrationserlebnissen verknüpft. Zu bedenken ist, dass Frustrationserlebnisse subjektiv betrachtet werden müssen. Es ist durchaus möglich dass in derselben Situation die eine Person eine Frustration empfindet, eine andere hingegen nicht. Aus den unterschiedlichsten Gründen besitzen besonders Menschen, die zu Gewalt neigen, eine geminderte Frustrationstoleranz.

Aus Aggression resultieren Affekterfahrungen wie Wut, Abscheu und Hass. Ein zentraler Affekt der Aggression ist die Wut.

Die Säuglingsforschung belegt, dass Wut ursprünglich der Versuch war, eine Quelle von Schmerz oder Unbehagen auszuschalten.




3.1 Aggressive Impulse

Bei vielen Menschen werden eigene aggressive Impulse unterdrückt. Wenn der aggressive Impuls in der Kindheit unterdrückt wurde, hat der Mensch Angst davor, dass dieser Impuls in sein Bewusstsein kommt und zu entsprechender Handlung führt.

Der Erwachsene, dessen aggressiven Impulse unterdrückt sind, hat nicht gelernt die Impulse in einer angemessenen Weise umzusetzen. Er hat auch nicht gelernt, Impulse zunächst bei sich zu behalten (Impulskontrolle). Jemand, dessen Impulse blockiert sind, hat also nicht gelernt aufzuschieben. Weil die Impulse fehlten, konnte er es nicht trainieren. Die Impulskontrolle ist eine Ich – Funktion, die zwischen Affekt und Handlung geschaltet ist.

Aggressive Impulse, die nicht ins Bewusstsein treten, werden nicht erlebt und sind so im Unbewussten eingesperrt. Diese eingesperrten Impulse erzeugen einen Druck auf die Schranken zwischen Unbewusstem und Bewusstem. Zur Entlastung werden diese aggressiven Impulse projiziert und eventuell im anderen bekämpft.

Depressive Menschen vermeiden es oft, mit anderen in Konflikt zu geraten und richten die Aggression stattdessen gegen sich selbst. Die Aggression gegen sich selber zu richten ist ein Abwehrmechanismus, der dazu dient, eine Beziehung aggressionsfrei zu halten. Menschen, die wenig Aggressionen zeigen, werden deswegen in unserer Gesellschaft oft als angenehm empfunden.

Es gibt aber auch Menschen mit eingeschränkter Impulskontrolle, die selbst bei geringem Ärger ärgerlich handeln. Sie sind in unserer Gesellschaft meist unbeliebt oder gefürchtet.

Es gibt angeborene Formen von Stoffwechselstörungen und geistige Behinderungen, die aggressiv machen. Aber das betrifft nur eine sehr kleine Gruppe von Menschen. Aggressives Verhalten entsteht durch alle Formen des Lernens, die denkbar sind. Denkbar ist die Erfahrung eines Kindes, durch Aggressionen sein Ziel zu erreichen.

Dies soll an zwei konkreten Beispielen veranschaulicht werden:
Ein Kind möchte ein Spielzeug. Die Mutter sagt erst: "Nein, du hast genug Spielzeug", dann motzt das Kind wild herum oder schlägt eventuell sogar. Die Mutter sagt daraufhin: "Na gut, meinetwegen." Man nennt das auch instrumentelle Aggression. Schädigung wird in Kauf genommen, um zu erreichen, was man möchte.
Ein anderes Beispiel: Ein Kind macht die Erfahrung ,dass es sich von seinen Spielkameraden alles nehmen kann, wenn es nur kräftig zuschlägt. Die Strafen der Erzieher werden in Kauf genommen und vielfach verstärkt sich das aggressive Verhalten.

Oft werden unangenehme Spannungszustände wie Schmerz, Furcht, Angst oder Ärger durch aggressives Verhalten abgebaut. Dadurch wird die Erfahrung gemacht, dass aggressives Verhalten entspannende Wirkung hat und Wohlbehagen auslöst. Wird ein Kind für sein aggressives Verhalten bestraft (besonders Strafe durch körperliche Gewalt), verstärkt sich das aggressive Verhalten durch dieses ungünstige Vorbild. Es braucht klare Grenzsetzung, die kurz und bündig geschehen muss. Frustrationen und ungünstige Bedingungen in Familie und Umwelt fördern aggressives Verhalten. Wer nirgends Anerkennung findet, immer nur Niederlagen erleidet, keine Erfolgserlebnisse hat, ist stark frustriert.




3.2 Einige Beispiele, wie sich Aggression äußern kann:

Entwertung Ein Schüler schafft das Abitur nicht und meint, dass ihm das nicht so wichtig war.
Überbewertung Prahlerei oder Übertreibung bezüglich der vollbrachten Leistungen, oder ausdrückliches Betonen unter welchen Schwierigkeiten etwas vollbracht wurde.
Herabsetzung Den anderen "kleinmachen", um dadurch selber höher zu erscheinen. Das schlecht machen von anderen, das Demütigen, das Ab- und Verurteilen, das Verhöhnen, das Austeilen von Ratschlägen, belehren, predigen und moralisieren, zurechtweisen, beurteilen oder interpretieren der Verhaltensweisen anderer. Aber auch Überbehütung und Verwöhnung.
Beherrschung Ausschalten wollen von anderen Personen, Anordnen, Befehlen
Kommandieren Alleiniges Übernehmen von Entscheidungen
Anklage Anderen die Schuld geben für eigenes Versagen. Auch das Beschuldigen und Be- und Verurteilen können Formen der Anklage sein.
Selbstanklage Um das eigene Selbstwertgefühl zu heben und das des anderen zu drücken, werden oft Selbstvorwürfe und Selbstquälerei in Kauf genommen, um dann als " Held" dazustehen.
Schuldgefühle Manche Menschen schaffen sich Schuldgefühle, um einen Grund für den Rückzug von den Anforderungen der Umwelt zu haben.
Ignoranz z.B. eine Mutter bestraft ihr Kind mit nicht Beachtung, spricht nicht mit dem Kind, beantwortet keine Fragen, übersieht es einfach. Hier handelt es sich um eine Form von passiver Aggression.
Selbstschädigung Wenn starke Ohnmachtgefühle abgewehrt werden sollen, kann das zu autoaggressiven Verhalten führen. Das selbstzugefügte Unheil belässt wenigstens einen Rest Autonomie.
Das letzte Wort Hinter diesem Machtspiel steckt der Wunsch nach Anerkennung, der aber (z. B. in der Gruppe) aggressiv abgewehrt werden muss, indem die Gruppe oder der Leiter abgewertet wird, um das angestrebte Gefühl der Überlegenheit wiederherzustellen.





3.3 Ungünstige Bedingungen in Familie und Umwelt, die Frustrationen fördern

  1. Mangel an positiven Vorbildern in der Familie
  2. Soziale Probleme in der Familie z.B. Arbeitslosigkeit
  3. Soziale Desorientierung des Kindes, weil die Eltern zu enge oder keine Regeln und Grenzen praktizieren
  4. Mangel an positiver Rückmeldung ( Anerkennung )
  5. Willkürliche, schwere und inkonsequente Strafen
  6. Familiäre Spannungen z. B. vor Trennungen
  7. Hilflosigkeit der Eltern gegenüber den eigenen Kindern
  8. Körperliche Gewalt, sexueller Missbrauch oder emotionale Vernachlässigung
  9. Beengte Wohnverhältnisse
  10. Lärmbelästigung

Kinder, die verwöhnt werden, die sehr autoritär erzogen werden oder auch durch Überbehütung sehr eingeengt werden, neigen verstärkt zu aggressivem Verhalten. Menschen, die sich aggressiv verhalten, fühlen sich oft bedroht bzw. angegriffen. Oft ist ihre Wahrnehmung verzerrt und sie deuten Situationen falsch. Viele Menschen haben nicht gelernt, sich anders als aggressiv zu begegnen. Viele können nicht mal "nein" sagen, ohne wütend zu werden.

Die Aggressionsforschung hat in vielen Experimenten versucht, aggressives Verhalten erklärbar zu machen. Im Jahre 1939 veröffentlichten fünf Wissenschaftler der amerikanischen Yale-Universität das Buch "Frustration und Aggression", in dem folgende Thesen vertraten:
1. Aggression ist immer eine Folge von Frustration.
2. Frustration führt immer zu einer Form von Aggression.

Durch ihre Behauptung erregten sie sofort lebhaften Widerspruch, später revidierten die Yale Wissenschaftler die These in ihrer krassen Form: Danach rufen Frustrationen die Tendenz zu irgendeiner Form von Aggression hervor.




4. Destruktive und konstruktive Aggression

Das Wort Aggression kommt aus dem lateinischen "aggredi", was bedeutet hinzugehen, herangehen. Während Aggression umgangssprachlich negativ besetzt ist, ist der lateinische Ausdruck also offen. Das auf jemanden zugehen, kann sowohl auf freundliche als auch feindliche Weise geschehen Die Ursprungsbedeutung der Aggression verweist "nur" auf irgendeine Form von Aktivität. Der Psychoanalytiker Stavros Menzos geht von zwei Formen der Aggressivität aus. Einmal von der konstruktiven, völlig wertfrei zu sehenden Freude des Menschen, am aktiven Eingreifen in die Umwelt. Zum anderen von der destruktiven Aggression, die den feindlich – bösartigen Angriff beschreibt, durch den andere geschädigt, beleidigt, verletzt oder sogar umgebracht werden.

Menzos unterscheidet Aggression zudem in funktionale und dysfunktionale Aggression. Funktional sind Aggressionen, wenn sie der Befriedigung von narzisstischen und /oder libidinösen Bedürfnissen dienen. Genau wie die Angst als Affekt und Reaktionsmuster nicht nur nützlich, sondern auch lebensnotwendig sein kann, stellt auch die destruktive Aggression als Affekt und Reaktionsmuster zunächst einmal eine biologisch und auch psychologisch sinnvolle Funktion dar .Das bedeutet, dass auch die destruktive Aggression funktional sein kann. Aggression ist dann dysfunktional, wenn sie nicht mehr der Durchsetzung von Bedürfnissen dient. Aggression ist dann der Ersatz für fehlende Befriedigung. Dies kann auch für scheinbar konstruktive Aggression gelten (z.B. Arbeitswut). Es gibt Aggression als Trieb (konstruktive Aggression) und als Affekt (destruktive Aggression). Die destruktive Aggression entsteht als Affekt, wenn eine Behinderung der Expansion eintritt und nicht als ein endogenes, ständig anwachsendes Potential von Aggressivität, dass von Zeit zu Zeit abreagiert werden muss.

Wichtig bleibt, dass die Aggression wahrscheinlich das wichtigste Problem sowohl innerhalb der Psychopathologie, als auch im alltäglichen Leben und in der Weltgeschichte darstellt. Allerdings ist es ein großer Unterschied, ob ich den Menschen als ein von Natur aus böses Wesen mit einen destruktiven Anteil sehe, oder ob ich den Menschen als ein sowohl nach Liebe als auch nach Autonomie, sowohl nach Kontakt als auch nach Selbstbehauptung strebendes Wesen (bipolare Struktur) sehe. Diese Struktur führt unter ungünstigen Bedingungen zu zahlreichen Komplikationen und Pseudolösungen. Lösungen, die zwangsläufig Frustration und Aggression nach sich ziehen.

Aggressivität ist Lebensenergie, denn ohne Aggression ist kein Sex möglich, ohne Sex ist kein Leben möglich. Aggression ist die Energie, die wir zum Leben brauchen, wir müssen sie bewusst in unser Leben integrieren, damit sie nicht destruktiv in uns wirkt und wir unkontrolliert impulsiv handeln. Aggression ist ein Teil unseres Selbst und wir können sie konstruktiv für uns nutzen, sie bringt uns voran. Die konstruktivste Form mit aggressiver Energie umzugehen, ist im Sexualakt neues Leben entstehen zu lassen. Die destruktivste Form der Aggressivität ist, mit dieser Energie Leben zu vernichten (Mord oder Selbstmord).




5. Integration von Aggressionen

Hauptaspekt der Fähigkeit zu Liebesbeziehungen und auch von deren Pathologie, ist die Integration von Libido und Aggression. Das Selbst als psychische Struktur hat seinen Ursprung in zugleich libidinös und aggressiv besetzten Selbstvorstellungen. Es ist notwendig, dass Libido und Aggression (Liebe und Hass) integriert sind, wobei die Liebe den Hass überwiegen sollte. Wenn Ambivalenzen toleriert werden, ist es möglich, dass verinnerlichte pathogene Objektbeziehungen aus der Vergangenheit zum Gegenstand projektiver Identifizierung werden. Das Paar kann dann Aggression als Teil der ambivalenten Beziehung zulassen und eine Bereicherung und Tiefe der Beziehung sicherstellen. Ist die Aggression aber exzessiv, besteht die Gefahr, dass nicht tolerierbare Konflikte entstehen und die Beziehung zerbricht. Das normale Selbst ist eine Struktur ,die sowohl mit Libido als auch mit Aggression besetzt ist. Die Integration "guter" und "böser" Selbstvorstellungen ist ein realistisches Selbstkonzept und eine Voraussetzung für die libidinöse Besetzung eines normalen Selbst. Diese Voraussetzung erklärt das Paradox, dass Integration von Liebe und Hass eine Voraussetzung für die Fähigkeit zu normaler Liebe ist.

Sexualpädagogische Sichtweise von Wildwasser

Die Sexualität ist ein wichtiger Bestandteil der eigenen Identität. Oft neigen Frauen (besonders mit sexueller Gewalterfahrung) dazu, ihre eigene Sexualität abzuspalten oder zu verdrängen. Eine lustvolle, befriedigende Sexualität ist aber ein wichtiger Bestandteil für ein glückliches und zufriedenes Leben.
Eine Voraussetzung, seine eigene Sexualität akzeptieren zu können, ist der positive und dadurch direkte Zugang zur eigenen Aggression. Fehlt die Aggression, fehlt ein Baustein zur eigenen Identität. Das Erkennen der eigenen Aggression und deren Hinzunahme ins bewusste Erleben, ist ein wichtiger Schritt, verantwortlich mit dieser Gewalt umzugehen. Dann so ist das situationsadäquate Setzen von Grenzen eine Selbstverständlichkeit und muss nicht gesondert erlernt werden.




5.1. Frauen und Aggressionen

Gesellschaftlich wird von Frauen aggressionsloses Verhalten erwartet. Frauen agieren ihre Aggressionen selten offen aus, Aggressionen werden verdrängt bzw. projeziert. Frauen bezeichnen Aggression als zeitweiligen Kontrollverlust, verursacht von übermäßigen Druck und gefolgt von Schulgefühlen. Männer sehen Aggressionen als Mittel, Kontrolle über Menschen auszuüben, wenn es um Macht und Selbstwertgefühl geht .Frauen verhalten sich oft eher indirekt aggressiv .Die weibliche Aggression aus dem alltäglichen Bewusstsein gilt meist als nachtragend und heimtückisch. Frauen würden im Extremfall eher vergiften als erschießen. Frauen, die Aggressionen offen ausagieren, werden überwiegend als "hysterische Weiber" bezeichnet.




5.2 Liebesbeziehungen und Aggressionen

An dieser Stelle möchte ich Otto F. Kernbergs These zur Reifen sexuellen Liebe zitieren. Seine These ist im wesentlichen, dass reife sexuelle Liebe eine komplexe emotionale Disposition ist, in der folgende Elemente zusammenwirken:

  1. sexuelle Erregung, die in ein auf einen anderen Menschen gerichtetes erotisches Begehren umgewandelt ist,
  2. Zärtlichkeit, die auf der Integration libidinös und aggressiv besetzter Selbst – und Objekttrepräsentanzen beruht, wobei die Liebe die Aggression überwiegt und die normale Ambivalenz, die allen zwischenmenschlichen Beziehungen eigen ist, toleriert wird,
  3. Eine Identifizierung mit dem anderen, die sowohl eine wechselseitige genitale Identifizierung als auch eine tiefe Einfühlung in die Geschlechtsidentität des anderen umfasst,
  4. Eine reife Form der Idealisierung, verbunden mit einer tiefgehenden Bindung an den anderen und an die Beziehung,
  5. Die Leidenschaftlichkeit der Liebesbeziehung in allen ihren drei Aspekten: der sexuellen Beziehung, der Objektbeziehung und der "Über–Ich" Besetzung des Paares.

Unbewusste nach dem ödipalen Objekt (also Mutter oder Vater) zu suchen, ist Bestandteil aller normalen Liebesbeziehungen. Das Bedürfnis nach Geborgenheit kann nur durch geben und nehmen gestillt werden. Das bedeutet aber auch, dass beim Sex auch "Macht haben" und "Macht zu lassen" wichtig sind. Wenn es beim Sex aber nur um "Macht haben" geht, ist man nicht mehr mit dem anderen in Beziehung, sondern macht diesen zum "Objekt". Es gibt dann kein wirklich befriedigendes Gefühl.

In Beziehung sein, heißt auch im Konflikt sein. Da das Gleichgewicht von Liebe und Aggression ein dynamisches ist, ist die Integration und Tiefe der Beziehung potenzial instabil. Auch unter den besten Voraussetzungen kann ein Paar nicht davon ausgehen, dass es zusammen bleiben wird, besonders wenn bedeutsame ungelöste Konflikte eines Partners oder beider das Gleichgewicht von Liebe und Aggression bedrohen. Selbst unter anscheinend vielversprechenden Bedingungen verschieben neue Entwicklungen manchmal dieses Gleichgewicht.

Auch emotionale Reife ist für das Paar keine Garantie einer konfliktfreien Stabilität.

Die Angst vor Verlust, Verlassenwerden und letztlich des Todes ist am größten, wo die Liebe am tiefsten ist; sich dessen bewusst zu sein verleiht der Liebe noch größere Tiefe.

Ein Beispiel von aggressiven Verhalten in der Paarbeziehung:
Oft ist das Paar versucht die relative Intimität mit engen Freunden zum Anlass zu nehmen, durch aggressives Verhalten Wut auf den Partner zum Ausdruck zu bringen. Wenn also das Paar nicht imstande ist, dieses aggressive Verhalten in der Privatheit seiner Beziehung aufzufangen und zurückzuhalten, benutzt es die Gruppe als einen Kanal für die Aggressionsabfuhr und als eine Bühne, auf der es die Aggression deutlich zeigen kann.
Es besteht die Gefahr, dass die Aggression derart gewaltsam zum Ausdruck kommt, dass sie in der Zerstörung der Beziehung mündet.




6. Persönliche Anmerkung zur Abschlussarbeit "Aggression und Sexualität"

In den letzten Wochen hat mich die Beschäftigung mit dem Thema Aggression immer wieder an meine Grenzen gebracht oftmals auch darüber hinaus.

Zwischenzeitlich gab es Phasen, wo ich es sehr bereut habe, dieses Thema gewählt zu haben, denn die Beschäftigung mit Aggressionen war nicht nur interessant, es hat auch eine Eigendynamik bekommen. Unlustgefühle, Ärger, Wut, Widerstand,, Frustrationsgefühle, Ohnmachtgefühle, Konflikte, Impulskontrollen-Verlust, haben mich eine Menge Energie gekostet. Aber auch voran kommen wollen, Lustgefühle bei Rachegedanken waren Aspekte der letzten Wochen.

Es hat mich erschreckt und gleichermaßen erstaunt, was das Thema Aggression bewirkt hat. Trotz dieser Spiegelungseffekte, bin ich froh mich mutig diesem Thema gestellt zu haben. Mir ist klar geworden: Diese Arbeit war auch ein Integrationsprozess. Dankbar bin ich allen, die mit mir in unmittelbaren Kontakt waren (Familie, Freunde) und mich erlebt und ausgehalten haben.




7. Literaturliste

Kernberg, Otto F.: " Liebesbeziehungen". Normalität und Pathologie. Stuttgart 1998.
Kernberg, Otto F.: "Schwere Persönlichkeitsstörungen". Theorie, Diagnose und Behandlungsstrategien. 5. Auflage, Stuttgart 1996.
König, Karl: "Kleine psychoanalytische Charakterkunde". Göttingen 1995.
König, Karl: "Charakter und Verhalten im Alltag". Göttingen 1995.
König, Oliver: "Macht in Gruppen. Gruppendynamische Prozesse und Interventionen". München 1998.


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